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Über den eigenen Tellerrand hinausdenken

Meine kleinen Enkel lieben Rüebli. Am liebsten frisch aus dem Gartenbeet. Sie kennen das Kraut und wissen genau, an welcher Pflanze man ziehen muss, damit man mit einem frischen Rüebli zum Brunnen gehen, es waschen und dann reinbeissen kann. Diese Erfahrung können heute nicht mehr alle Kinder machen. Manchen fehlt das Privileg, einen Garten, ein Gemüsebeet oder ein Balkonkistchen mit Pflanzen zu haben.

Aber auch ohne Gartenbeet können wir dafür sorgen, dass Kindern (und uns!) der Wert von Nahrungsmitteln und Ressourcen bewusst ist. Indem wir uns diese Werte immer wieder selbst bewusst machen. Woher kommt das, was ich gerade esse, ­trage oder benutze? Wer hat es produziert, transportiert und ­verarbeitet? Habe ich einen fairen Preis dafür bezahlt? Haben die Produzenten einen fairen Lohn erhalten? Schätze ich, was ich habe, und reicht es mir aus, oder brauche ich immer noch mehr und noch mehr?

Aus meiner Sicht müssen wir uns auch den Schattenseiten unserer Gesellschaft widmen und dabei ehrlich sein. Zugeben, dass es uns gut geht. Auch auf Kosten von Menschen, denen es nicht gut geht. Zugeben, dass es Kinder gibt, die hungern müssen und keine Chancen auf Bildung und Gesundheits­versorgung haben. Uns der Tatsache stellen, dass wir im Überfluss leben, während anderswo Kinder hungern. Wir sind als ­Gesellschaft zwar in der Lage, in die entlegensten Gebiete dieser Erde vorzudringen, immer neue Rekorde aufzustellen und all ­unsere wichtigen und unwichtigen Erlebnisse in Windeseile der ganzen Welt mitzuteilen. Aber offensichtlich sind wir nicht in der Lage, dafür zu sorgen, dass jedes Kind auf dieser Erde satt wird und ein würdiges Leben führen kann. Das ist ein Armutszeugnis. Für uns, die wir immer und überall meinen, die Patentrezepte zu haben. Für uns, die wir immer noch mehr wollen. Immer noch mehr benötigen und optimieren und anhäufen.

Sie finden, dies sei kein schönes Thema? Sie haben recht. Es ist ein hässliches Thema. Doch wenn wir uns – wie in diesem Heft – mit Essen und Trinken befassen, dann können wir Hunger und Unrecht nicht verschweigen. Dann müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes über den eigenen Tellerrand hinausdenken. An jene denken, die nichts auf dem Teller haben und denen auch sonst nichts geschenkt wird.

Doch wer ist schuld am Welthunger? Kriege und Klima­katastrophen, schwache Staaten und korrupte Verantwortungsträger? Oder vielleicht auch Sattheit, Gier und Oberflächlichkeit?

Jedenfalls können wir etwas tun. Nämlich zugeben, dass es unserer Gesellschaft zwar besser geht als noch in der vor­letzten Generation. Vielen anderen aber, die auch zu unserer ­globalen Gesellschaft gehören, denen geht es schlecht. Dazu müssen wir stehen und dafür sorgen, dass wir und unsere künf­tigen Generationen ein neues Bewusstsein entwickeln.

In diesem Sinne freue ich mich über alle Kinder und alle ­jungen und älteren Menschen, die sich Gedanken machen über Essen und Trinken, über Ressourcen und Klima. Und über Soli­darität. Nehmen wir uns ein Beispiel an ihnen!

Christine Häsler

Christine Häsler
Bildungs- und Kulturdirektorin
christine.haesler@be.ch

Foto: Pia Neuenschwander

 

EDUCATION 4.23

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