Anfang Juni fand die zweite Ausgabe von «Schule macht stark!» statt. Über 500 Personen nahmen an der Tagung zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Kursaal Bern teil. Zu den Hauptreferenten gehörte auch der renommierte finnische Psychiater und Autor Ben Furman, der uns für ein ausführliches Interview zur Verfügung stand.

Sehr geehrter Herr Dr. Furman, wie sind Sie dazu gekommen, den Beruf des Psychiaters und Psychotherapeuten zu ergreifen und sich speziell auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu konzentrieren? Was hat Sie motiviert, diesen Weg einzuschlagen, und was treibt Sie in Ihrer Arbeit an?
Ben Furman In den 80er-Jahren habe ich mich auf Familientherapie spezialisiert, die damals als innovative Therapieform aufkam. Es herrschte eine Aufbruchstimmung in der Psychotherapie, und viele von uns waren davon überzeugt, dass systemische Ansätze das Potenzial haben, das gesamte therapeutische Feld zu revolutionieren. Wir wollten weg von der rein individuellen Therapie hin zu einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem die Familie als Einheit in den Heilungsprozess einbezogen wird. Besonders bei Themen wie Essstörungen haben wir gesehen, wie wichtig es ist, Probleme gemeinsam zu lösen. Heute wird diese Methode als Systemische Therapie bezeichnet. Persönlich habe ich mich als lösungsfokussierter Therapeut weiterentwickelt, aber mein Ansatz wurzelt immer noch tief in der Überzeugung, dass familiäre und soziale Systeme entscheidend für die Entwicklung und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen sind.
Sie waren einer der Hauptreferenten an der Tagung für Lehrpersonen und Schulleitende zum Thema «Schule macht stark!» im Juni hier in Bern. Nun, was macht die Schule stark?
Das Wichtigste ist die Klassenatmosphäre. Wenn diese angenehm und kooperativ ist, sind auch die Lehrpersonen entspannt und gehen mit Freude an ihre Aufgaben. Um eine konstruktive und motivierende Atmosphäre im Schulzimmer zu schaffen, eignet sich das von mir entworfene Konzept der «Meisterklasse», in dem es da rum geht, die Schülerinnen und Schüler der unteren Klassen durch ein gemeinsames Projekt zu motivieren. Sie erarbeiten Abmachungen und Ziele, die sie gemeinsam und eigenverantwortlich erreichen möchten. Für den Spass an der Sache kommt der Gamification-Ansatz zum Tragen.
Ihre Methode basiert auf der lösungsorientierten Sichtweise, dass Kinder neue Fähigkeiten erlernen müssen, um Schwierigkeiten zu überwinden. Wie schaffen sie das?
Der Prozess beginnt stets mit einem kollektiven Klassenziel, das die Schülerinnen und Schüler erreichen wollen – auf spielerische Weise, die Freude und Motivation weckt. Zunächst wählen die Kinder eine Fähigkeit aus, die sie gemeinsam erlernen möchten, wie zum Beispiel das Erledigen von Hausaufgaben oder das aufmerksame Zuhören im Unterricht. Sie stimmen über ihre Ziele ab, diskutieren den Weg dorthin und holen sich die Erlaubnis der Schulleitung für ihr Vorhaben. Damit erhält das Projekt eine besondere Tragweite für die Kindern, denn sie haben sich die Legitimation von oberster Autorität geholt. Während des Projekts bilden die Schülerinnen und Schüler dann kleine Skill-Teams, in denen sie lernen, sich gegen seitig zu unterstützen, um als Gruppe erfolgreich zu sein. Sie bewerten ihren Fortschritt selbstständig und reflektieren regelmässig über ihre Erfolge. Erreichte Ziele werden gefeiert und durch Urkunden oder andere Anerkennungen gewürdigt.
Was lernen die Kinder mit diesem Ansatz?
Sie erfahren zunächst den Wert kooperativen Handelns. Sie entwickeln soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit, lernen Verantwortung zu übernehmen und erleben ihre eigene Selbstwirksamkeit. Der Stolz auf das gemeinsam Erreichte und die Freude am Erfolg steigern zusätzlich die Motivation und das Engagement der gesamten Klasse. So entsteht eine positive und produktive Klassenkultur, die das Lernen und die Zusammenarbeit auf natürliche Weise unterstützt.
Was ist dabei die Aufgabe der Lehrpersonen?
Die Lehrperson spielt in dieser Methode eine unterstützende Rolle und fördert primär das Funktionieren der Teams wie ein Manager eines modernen Unternehmens. Zudem fungiert sie selbst als Vorbild, indem sie freiwillig einen Skill verbessern möchte, um der Klasse das gemeinsame Ziel zu demonstrieren. Dass auch die Lehrkräfte Teil des Bestrebens sind, das Klassenklima zu verbessern, motiviert die Schülerinnen und Schüler zusätzlich.

Sie haben als Coach das Programm «Ich schaffs!» initiiert. Was hat es mit dieser Methode auf sich?
Das Programm ist ein lösungsfokussierter Ansatz zur Förderung von Kindern und Jugendlichen, der darauf abzielt, ihre Stärken und Fähigkeiten in den Vordergrund zu stellen. Es basiert auf der Überzeugung, dass jedes Kind das Potenzial hat, Herausforderungen zu meistern und neue Fähigkeiten zu entwickeln, wenn es die richtige Unterstützung erhält. Anstatt sich auf Probleme zu konzentrieren, ermutigt das Programm Kinder dazu, Fähigkeiten zu entwickeln, um diese Herausforderungen zu meistern. Kinder sollen sich konkrete Ziele setzen und Schritt für Schritt auf diese hinarbeiten. Der Ansatz integriert dabei auch das soziale Umfeld, sodass Eltern, Lehrpersonen und Gleichaltrige aktiv in den Prozess einbezogen werden, um das Kind in seinen Aufgaben zu unterstützen.
Welche Kompetenzen sollen Kinder durch das Programm entwickeln?
Das hängt von den individuellen Herausforderungen ab, denen das Kind begegnet. Es können soziale Fähigkeiten wie Freundschaften schliessen oder Konflikte lösen sein, aber auch praktische Fertigkeiten wie Ordnung halten oder Aufgaben strukturieren. Darüber hinaus geht es oft um emotionale Kompetenzen wie Geduld, Frustrationstoleranz oder den Umgang mit Ängsten. Das Programm ist so flexibel, dass es an die spezifischen Bedürfnisse jedes Kindes angepasst werden kann, und zielt darauf ab, nicht nur die aktuellen Schwierigkeiten zu bewältigen, sondern auch das Selbstvertrauen und die Resilienz der Kinder langfristig zu stärken.
Was wünschen Sie sich für die Kinder und Lehrpersonen heute?
Ich wünsche mir, dass wir wieder mehr Wert auf die Zusammenarbeit zwischen Lernenden, Lehrpersonen und Eltern legen. Wenn dieser Dreiklang funktioniert, können wir erfolgreich zusammenarbeiten: Die Eltern unterstützen die Lehrpersonen, die Lehrpersonen fördern die Lernenden, und die Schüler profitieren davon. So entsteht nicht nur eine förderliche Lernumgebung, sondern auch eine wechselseitige Wertschätzung zwischen allen Beteiligten.
«Ich schaffs!»

Spielerisch und praktisch Lösungen mit Kindern finden. Das 15-Schritte-Programm für Eltern, Erzieher und Therapeuten. «Ich schaffs!» ist eine Sammlung von kreativen Ideen und Techniken, die sich im Umgang mit kindlichen Problemen als nützlich erwiesen haben. Dahinter steckt ein klares und gut nachvollziehbares Programm von aufeinander folgenden Schritten, das Kindern vom Vorschulalter bis in die Pubertät hilft, Schwierigkeiten konstruktiv zu überwinden. Seien es Verhaltensprobleme, Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste oder einfach schlechte Angewohnheiten. Erhältlich als Taschenbuch und E-Book.
Ben Furman (70)
ist Psychiater, Familientherapeut und Mitgründer des Helsinki Kurztherapiezentrums. Er ist Experte für lösungsfokussierte Therapie, Coaching und Organisationsberatung. Sein Buch «Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben» wurde in die Liste der hundert Meisterwerke der Psychotherapie auf genommen. Seine Bücher wurden bislang in zehn Sprachen übersetzt.
Christoph Schelhammer
Traduction depuis l'anglais : Christoph Schelhammer
Photos : Ruben Ung
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