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«Fehlerrisiken eingehen lohnt sich»

Wann ist eine Fehlerkultur eine gute Fehlerkultur, und warum ist eine solche im Schulalltag und auch sonst im Leben so wichtig? Sue Schwab, einerseits Basisstufen-Lehrperson, andererseits Dozentin am Institut für Weiterbildung und Dienstleistung der Pädagogischen Hochschule Bern, beleuchtet das Thema im Gespräch aus verschiedenen Blickwinkeln.

«Weiterentwicklung bedingt Fehler», betont Sue Schwab, deshalb sei es wichtig, täglich seine Komfortzone zu verlassen.

Alle machen bekanntlich Fehler. Stören Sie Ihre Fehler?
Sue Schwab Das hängt von der Art des Fehlers ab. Handelt es sich um kleine Alltagsfehler oder solche, die mir helfen, mich weiterzuentwickeln, versuche ich mich an diesen Spruch zu halten: «Fehler sind Helfer, nur anders buchstabiert.» Sprich, sie stören mich kaum oder spätestens nach einer kurzen Reflexionsphase nicht mehr. Hat ein Fehler aber weitreichende Folgen, zum Beispiel für andere Menschen oder ein Tier, beschäftigt er mich länger. Dann brauche auch ich Strategien, um aus der Schuld- und Schamspirale herauszufinden. Das können zum Beispiel Gespräche mit verständnisvollen Menschen, nächste positive Erlebnisse oder ein liebevoller und vorwurfsfreier Umgang mit mir selbst sein. Im besten Fall eine Kombination davon.

Was bedeutet Fehlerkultur für Sie?
Darunter verstehe ich die Art und Weise, wie mit Fehlerrisiken und begangenen Fehlern umgegangen sowie welches Verhalten überhaupt als Fehler bezeichnet wird. Dies zum einen gegenüber mir selbst sowie innerhalb von Peer-Gruppen, Elternhaus oder einer Klasse, zum anderen in einem grösseren gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Da hatte ich während einer Abschlussprüfung an der Freien Universität Berlin hinsichtlich der Themenzentrierten Interaktion im selbstgesteuerten Lernen ein spannendes Erlebnis: Eine Beisitzerin war Japanerin und erzählte, dass bei ihnen das Individuum als solches kaum existiert. Eine Vermeidung von Fehlern hat stets das Wohl der Gesellschaft, nicht jenes des Einzelnen zum Ziel. In der westlichen Kultur richten sich Fehlerkulturen viel mehr am Individuum aus. Dennoch können sie je nach Ziel und Vision förderlich oder hinderlich für die individuelle Weiterentwicklung sein.

Was ist denn eine gute Fehlerkultur?
Wenn Fehler als Lernchancen oder eben als Helfer betrachtet werden. Lernen ist immer Veränderung. Würden wir keine Fehler machen, gäbe es nichts zu lernen. Das sage ich auch immer zu meinen Basisstufenkindern: Zum Glück macht ihr Fehler, sonst wäre ich ja arbeitslos. Eine solche Fehlerkultur bedingt eine stabile Beziehungsebene, unabhängig vom Setting. Das heisst, alle Beteiligten dürfen Fehler machen, Kinder, Lehrpersonen, Schulleitung, Eltern, und es wird darüber gesprochen, ohne dass gleich eine Strafe oder eine Blossstellung befürchtet werden muss. Stattdessen wissen alle: Fehler sind nicht, was mich ausmacht, sondern nur ein Teil von mir, ein Teil von uns allen. Eine gute Fehlerkultur bedeutet also auch, dass eine Schule bewusst Ressourcen in die Beziehungsdidaktik investiert. Nur so wird die Beziehung und mit ihr die Fehlerkultur tragfähig.

Welche strukturellen Bedingungen fördern oder behindern in einer Bildungsinstitution eine offene Fehlerkultur?
Behindernd wirkt eine Fehlerkultur, die Fehler bestraft. Weil sie ein Setting schafft, in dem wir Fehler lieber vertuschen oder anderen in die Schuhe schieben, als dass wir sie zugeben. Zudem führt sie zu Angst vor Fehlern, die wiederum negative Emotionen, Denkblockaden und vermindertes Leistungsvermögen zur Folge haben kann. Und: Angst vor Fehlern fördert ein übertriebenes Sicherheitsdenken, in dem alle lieber in ihrem sicheren Gärtchen bleiben, statt Neues zu wagen. Für die Kreativität ist das fatal. Förderlich sind Dinge wie die im Lehrplan 21 verankerte formative Beurteilung. Hier werden Fehler eher als Helfer erkannt, als Hilfsmittel beim Finden und Schliessen von Wissenslücken. In der summativen Beurteilung hingegen, die wir aus historisch gewachsenen Selektionsgründen leider nicht ganz weglassen können, hat der Fehler eine ganz andere Rolle. Hier dient er der Rangierung und dem Vergleich und wird mit Punkteabzug bestraft. Positive Emotionen werden nur bei den Bestplatzierten freigesetzt, bei den anderen dominieren im schlimmsten Fall Scham und Minderwertigkeitsgefühle. Am zuträglichsten ist einer offenen Fehlerkultur und dem Lernprozess der Schülerinnen und Schüler darum ein starker Fokus auf die formative Beurteilung.

Warum ist eine offene Fehlerkultur im Unterrichtsalltag und ganz grundsätzlich im Leben so wichtig?
Eine offene Fehlerkultur ermöglicht es allen Beteiligten, sich weiterzuentwickeln. Es liegt in der Natur von uns Menschen, dass wir uns mit Veränderungen schwertun. Aber ohne Veränderung kein Lernen. Wichtig ist darum, dass wir uns auf unser Gegenüber verlassen können, dass es berechenbar ist. Ist dieses Vertrauen gegeben, fällt es uns einfacher, Mut zum Fehlermachen aufzubringen und unsere Komfortzone zu verlassen. Manchmal entdecken wir dabei Neues, manchmal merken wir, dass das Alte gar nicht so schlecht war. So oder so fördert eine solche Fehlerkultur die persönliche Weiterentwicklung, sowohl bei den Lehrpersonen als auch bei den Schülerinnen und Schülern.

Wie können Lehrpersonen jungen Menschen beibringen, eigene Fehler nicht als Makel, sondern als Motor zu begreifen?
Zum einen, indem sie selbst Vorbilder sind, ihren Umgang mit Veränderungen bewusst gestalten, sichtbar machen und die Kinder und Jugendlichen an ihren kognitiven Überlegungen teilhaben lassen. Im Sinne von: Ich probiere jetzt mit euch etwas Neues, dann finden wir gemeinsam heraus, ob es funktioniert oder nicht. Merken die Schülerinnen und Schüler, dass Lehrpersonen bewusst Fehlerrisiken eingehen, werden sie fast automatisch ebenfalls mutiger im Umgang damit. Zum anderen ist es wichtig, dass in der Klasse Strategien diskutiert werden, wie mit Fehlern umgegangen werden kann. Dadurch lernen die Kinder und Jugendlichen verschiedene Wege kennen und üben sich gleichzeitig in der ebenfalls im Lehrplan 21 verankerten Selbstkompetenz. Dabei lohnt es sich, auch sie erzählen zu lassen. Sie kommen nicht als weisses Blatt Papier in die Schule und haben oft Strategien und Ideen auf Lager, auf die wir selbst gar nicht gekommen wären.

Worin liegt die Kunst von konstruktivem Feedback?
Für mich wirkt ein Feedback dann besonders konstruktiv, wenn es auf einer stabilen Beziehungsebene gegeben wird und den Fokus auf Sachen legt, die veränderbar sind. Wichtig ist zudem, dass es regelmässig passiert, fest im Unterricht eingebunden ist und alle Beteiligten die Form kennen. Im Idealfall werden dabei alle Ebenen bespielt: Selbstfeedback, Aussenfeedback, Peer-Feedback. Und nicht nur Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, sondern auch darauf hingewiesen wird, was schon gut läuft. Ich handhabe es in meinem eigenen Unterricht so, dass ich dem pädagogischen Sandwich entsprechend auf einen Entwicklungspunkt zwei erreichte Ziele aufzeige.

Wie lässt sich das im Schulalltag trainieren und kultivieren?
Durch bewusstes und regelmässiges Einsetzen der formativen Beurteilung. Eine gute Möglichkeit sehe ich auch in Lerncoachings, wie sie Hanna Hardeland1 beschreibt, am besten nicht einfach hin und wieder, sondern fest in den Schulalltag eingebaut. Hilfreich finde ich zudem das Bewusstsein, dass alle Schülerinnen und Schüler gleich zu behandeln nicht funktionieren wird. Was aber funktioniert und funktionieren muss: Dass wir alle fair und berechenbar behandeln. Ein Anfang kann sein, jedem Kind einmal pro Lektion lächelnd in die Augen zu schauen. Auch das ist ein Feedback und ein Beziehungsangebot. Sie werden staunen, was diese kleine Geste für einen Unterschied macht.

Welche Rolle spielen die Eltern und Bezugspersonen im Aufbau einer positiven Fehlerkultur?
Eine extrem wichtige. Der Umgang mit Fehlern in der häuslichen Sozialisation legt das Fundament für die Fehlerkultur des Einzelnen. Die Schule kann ergänzend wirken, neue Strategien und den professionellen Umgang damit aufzeigen. Aber die Basis wird im Elternhaus gelegt. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Fehlerkultur unter Peers, diese wird bestimmender, je älter die Kinder werden, und ist ab einem bestimmten Zeitpunkt wichtiger als alles andere. Wichtig scheint mir überdies: Wir dürfen nie davon ausgehen, dass es für Kinder selbstverständlich ist, dass sie Fehler machen dürfen. Das ist etwas, was wir ihnen aktiv und immer wieder sagen müssen.

Welchen Tipp möchten Sie unserer Leserschaft mitgeben im Umgang mit ihren eigenen Fehlern und jenen der anderen?
Erstens: Verschreiben Sie sich im Umgang mit Fehlern, egal, ob von anderen oder Ihnen selbst, der hohen Kunst der Gelassenheit. Nicht im Sinne von ignorieren oder Augen verschliessen. Aber zuerst einmal durchatmen hilft fast immer. Zweitens: Verlassen Sie mindestens einmal pro Tag Ihre Komfortzone. Sie ermöglichen sich damit so viel Neues. Und merken, dass gar nicht wirklich viel passiert, wenn mal etwas schiefläuft.

1 Hanna Hardeland ist Lehrerin, Lerncoach und Trainerin und leitet seit 2009 ihr eigenes Fortbildungsinstitut. Sie ist eine gefragte Expertin zum Thema Lerncoaching und Lernberatung:

Sue Schwab (52)

kennt und fördert eine gute Fehlerkultur aus zwei Perspektiven: Zum einen unterrichtet sie in einem Teilzeitpensum an der Basisstufe, zum anderen ist sie an der Pädagogischen Hochschule Bern als Dozentin sowohl im Team Mathematik-Didaktik als auch im Team Unterrichten und Lernen tätig. Am Anfang ihrer Lehrerinnenkarriere stand das ehemalige Seminar Hofwil, später zog sie beziehungsbedingt nach Berlin und studierte dort Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung und Betriebliche Bildung. Heute lebt Sue Schwab mit ihrem Partner in Gümligen.

Karin Hänzi

Fotos: Ruben Ung

 

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