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«Wir schauen sehr genau hin»

Daniela Bleisch und Kathrin Hersberger sind als Leiterinnen der Erziehungsberatung (EB) Biel am Puls der Familien. In einem ­offenen Gespräch erzählen sie von ihrer Arbeit rund um die Brennpunkte Ernährung, Schlaf und Medienkonsum.

Kathrin Hersberger

Dr. phil. Kathrin Hersberger Roos (51) ist Fachpsychologin für Kinder- und ­Jugendpsychologie sowie für Psychotherapie, zudem diplomierte Erziehungsberaterin-Schulpsychologin. Bei der EB Biel ist sie als Co-Stellenleiterin tätig. Sie hat zwei Kinder im Teenageralter und lebt in Bern. Kathrin Hersberger weiss das Schlafen zu geniessen.

Daniela Bleisch

Lic. phil. Daniela Bleisch Papini (51) ist Fachpsychologin für Kinder- und
Jugendpsychologie sowie für Psychotherapie. Bei der EB Biel ist sie als Co-Stellen­leiterin tätig, zudem führt sie auch den Bereich Ausbildung. Sie hat zwei Kinder im Teenageralter und lebt in Bern. Daniela Bleisch kocht sehr gerne und duldet dabei niemand anderen in der Küche.

EDUCATION Sie beide haben für unser Gespräch den Arbeitstitel «Wenn Essen, ­Trinken und Schlafen zu Konflikten führt» vorgeschlagen. Weshalb das Stichwort Konflikte?

Daniela Bleisch Zu uns kommen Eltern und Kinder vor allem dann, wenn es Konflikte gibt. Das Essen und Trinken oder das Schlafen sind kaum je Themen für sich. Und meist liegen hinter den Schwierigkeiten in diesen Bereichen viel komplexere Probleme.

Kathrin Hersberger Oft beschäftigen wir uns mit Beziehungs- oder Entwicklungsthemen, wenn Kinder sich nicht ganz normativ entwickeln und dann auch auf­fällig werden – etwa im Zusammenhang mit einem ADS. Bei den Jüngeren gibt es immer wieder die Situation, dass das Kind zur Essenszeit nicht an den Tisch kommen will und einfach weiterspielt. Unsere Aufgabe ist es dann, diesen Übergang von der einen Situation in die andere gestalten zu helfen. In der Regel hat ein solches Kind auch Mühe, zu Bett zu gehen, also vom Tag in die Nacht zu wechseln. Oder von zu Hause nach draussen.

Bleiben wir bei diesem Kind. Wie gehen Sie vor?

Bleisch Wir schauen sehr genau hin, was in den schwierigen Situationen abläuft, und klären mit den Eltern den Auftrag. Manche stellen sich vor, sie könnten ein einziges Mal zu uns kommen und mit einem Rezept wieder nach Hause gehen – aber es gibt selten Rezepte. Wir müssen uns Zeit nehmen, bis wir erkennen, was dem Verhalten des Kindes zugrunde liegt …

Hersberger Und Kinder, die eine besondere Entwicklung mitbringen, brauchen noch viel mehr Zeit. Für die Übergänge entwickeln wir Rituale. Das beginnt damit, dass man nicht aus der Küche zum Essen ruft, sondern zum Kind hingeht, um es an den Tisch zu holen. Oder man bindet es vorgängig ins Tischdecken mit ein. Vielleicht gibt es noch ein klangliches Signal, einen bestimmten Ton, es kommt ganz drauf an, was das Kind braucht.

Bleisch Manchmal sind die Erwartungen der Eltern zu hoch. Dann klären wir psychoedukativ auf und erklären, dass ein drei- oder vierjähriges Kind von seiner Entwicklung her noch gar nicht eine ganze Stunde am Tisch sitzen kann.

Sind die Eltern denn bereit, ihre ­Erwartungen und Gewohnheiten zu verändern?

Hersberger Ja, der Leidensdruck ist meistens schon recht gross, wenn sie zu uns kommen.

Mit welchen Themen sind Sie bei etwas älteren Schulkindern ­konfrontiert?

Bleisch Ein wichtiger Schritt Richtung Selbstständigkeit ist es, auswärts zu übernachten. Schläft ein Kind im Grundschulalter noch bei den Eltern, weiss es selbst, dass dies nicht mehr normativ ist. Dann kommen die ersten Schullager, und ein enormer Druck entsteht. Das Kind hat Angst, sein Gesicht zu verlieren, möchte es bis zum Lager schaffen, allein zu schlafen, aber dermassen unter Druck geht es dann meist nicht.

Gibt es bei Kindern Schlaf­störungen?

Hersberger Gibt es, ja, sowohl Einschlaf- wie auch Durchschlafstörungen. Ersteres ist häufiger. Wir schauen, was da vor dem Zubettgehen passiert, wie lange abends noch Medien genutzt werden. Wir fragen, ob die Kinder müde genug sind, wenn sie ins Bett sollen, ob sie genug Bewegung hatten. Wir prüfen auch, ob die Schlafenszeit noch altersgerecht ist – acht Uhr ist ­irgendwann einfach zu früh. Wenn aber das Durchschlafen auffällig wird, was seltener geschieht, dann ist es gravierender, und wir schauen noch genauer hin.

Warum sind Durchschlafprobleme gravierender?

Hersberger Weil man sie vor allem im ­Zusammenhang mit psychischen Belastungen kennt.

Bleisch Wenn Kinder einmal schlafen, dann schlafen sie in der Regel durch. ­Können sie das nicht, ist es oft ein Hinweis auf familiäre oder soziale Belastungen, zum Beispiel Stress in der Schule, Angst, etwas nicht zu schaffen.

Hersberger Was wir immer ansprechen, ist die Schlafhygiene. Dazu gehören regelmässige Bettzeiten und eine Stunde Medienabstinenz vor dem Schlafen. Jugendlichen empfehlen wir, ihre Bildschirme in den Nachtmodus zu setzen und keine ­Cola mehr zu trinken. Manchmal zeigen wir ihnen auch Entspannungstechniken, die beim Einschlafen helfen können.

Mit welchen Problemen gelangen Teenager an Sie?

Hersberger Müdigkeit ist bei dieser Alters­gruppe ein grosses Thema, gepaart mit Konzentrationsschwierigkeiten. Wir ver­suchen, herauszufinden, ob dem eine psychische Belastung zugrunde liegt oder ­Erschöpfung, weil der Schlaf-wach-Rhythmus nicht eingehalten wird. Manchmal ist es auch sinnvoll, eine medizinische Fachstelle beizuziehen, um somatische Ur­sachen auszuschliessen.

Bleisch Ein ausgeprägtes Schlafbedürfnis ist ja ein bisschen typisch für die intensive pubertäre Entwicklungsphase. Es gibt Jugendliche, die fast nicht mehr aus dem Bett kommen, keine Energie haben, einfach nur dem Nichtstun frönen möchten. Das muss nicht immer alarmierend sein, aber die Abgrenzung zu einer depressiven Verstimmung ist in solchen Fällen wichtig – und nicht immer einfach.

Melden sich eher die Jugendlichen bei Ihnen oder die besorgten Eltern?

Bleisch Beides. Manchmal kommen auch nur die Eltern, weil die Jugendlichen sich weigern mitzukommen. Es gibt aber auch solche, die von sich aus einen Termin verlangen.

Hersberger Oft melden sich auch die Schulen, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten fallen da natürlich auf.

Die Konzentrationsschwierigkeiten junger Menschen sollen stark zugenommen haben. Stimmt das?

Bleisch Fakt ist, dass man heute mehr weiss über entwicklungsbedingte Schwierigkeiten, es gibt allgemein eine höhere Sensibilität dafür, auch deshalb ist öfter die Rede davon. Aber wenn man beispiels­weise aktuelle Filme anschaut, dann fällt auf, dass sie in viel kürzerem Rhythmus geschnitten sind als zu unserer Jugendzeit. Man ist heute daran gewöhnt, sehr schnell mit Bildern berieselt zu werden, permanent Abwechslung zu haben. Wer mit solchen Medien aufgewachsen ist, hat Mühe, länger an etwas dranzubleiben, ruhig und vertiefend zu arbeiten, geduldig zu sein.

Hersberger Die Schule verlangt aber ­genau das. Schule ist nicht so prickelnd, da bekommt man nicht immer sofort eine Belohnung wie beim Gamen. Das Next ­Level muss man sich erarbeiten.

Bleisch Viel Leid entsteht bei den Jugendlichen im Zusammenhang mit sozialen ­Medien. Auch hier ist das Tempo hoch – man ist sehr schnell ausgeschlossen, oder man wird blossgestellt, und in kürzester Zeit haben es alle mitbekommen. Das führt zu grossen Verunsicherungen und Verletzungen. In den Schulen ist es fast unmöglich, schnell genug und richtig zu reagieren. Wann ist das Problem Sache der Schule, wann müssen die Eltern benachrichtigt werden, wann die Polizei?

Hersberger Ja, Medien, insbesondere soziale Medien sind im Bereich Erziehung aktuell eine der grössten Herausforderungen, auch in den Familien. Es geht heute nicht mehr darum, Zeitfenster für den Medienkonsum zu bestimmen, sondern Zeit ohne Medien.

Die Co-Stellenleiterinnen der EB Biel

Seit 1. Januar 2024 teilen sich Daniela Bleisch Papini und Kathrin Hersberger Roos die Abteilungsleitung der Erziehungsberatung.

Tina Uhlmann

Fotos: Pia Neuenschwander

 

EDUCATION 4.23

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