Wer beim MBA an den Empfang tritt, merkt nicht, dass die Dame in der Glasbox kaum etwas sieht. «Ich wurde so geboren», sagt Heidi Schuhmacher. Deshalb wohl geht sie so natürlich mit ihrer Sehbehinderung um. Einfach ist es für sie aber trotzdem nicht, zu funktionieren wie alle anderen.

Irgendwann hat Heidi Schuhmacher ihre Sehbehinderung in den Bewerbungen nicht mehr erwähnt. «Ich dachte einfach, sonst landen die direkt im ‹Ghüder›», sagt sie. Ohnehin hat sich die gelernte Telefonistin keine grossen Chancen ausgemalt nach 17 Jahren Berufspause, in denen sie vollamtlich Hausfrau und Mutter war. Aber ihr «Trick» hat funktioniert: Auf ihre Bewerbung für den Empfang des bernischen Mittelschul- und Berufsbildungsamtes hin wurde sie zum Gespräch eingeladen. Da ist sie dann mit Loony erschienen, ihrer feingliedrigen Führhündin. Die Stelle war explizit «auch für Leute mit Beeinträchtigung» ausgeschrieben gewesen. An eine Sehbehinderte habe man aber weniger gedacht, hiess es dann im Gespräch. Offenbar gab es im Amt schon einen Mitarbeiter, der sich mit seiner schwindenden Sehkraft eher schwertat. Also Vorsicht!
Nie etwas vermisst
Heidi Schuhmachers Sehkraft schwindet nicht. Die 56-Jährige ist schon mit einem blinden Auge und knappen 25 Prozent Sicht auf dem anderen Auge zur Welt gekommen. Interessanterweise sieht sie in der Tatsache, dass ihre Beeinträchtigung angeboren ist, einen Vorteil: «Ich weiss nicht, wie es ist, gut und dreidimensional zu sehen», erklärt sie, «deshalb habe ich nie etwas vermisst. Als Kind habe ich mich an meinen älteren Brüdern orientiert und einfach alles mitgemacht.» Sie lächelt. «Ich bin den beiden sogar auf dem Velo nachgefahren!» Irgendwie ging das. Offenbar haben auch die Eltern kein grosses Drama um Heidi gemacht. So hat sie früh gelernt, sich selbst zu helfen. Und so hat sie auch die Verantwortlichen am MBA überzeugt und am 11.11.2024 ihre Stelle am Empfang angetreten.
Pendeln ist härter geworden
Betritt man das Amt im Berner Breitenrainquartier, begegnet man an der Loge dem aufmerksamen Blick einer hübschen, sorgfältig zurechtgemachten Frau. Die Augen sind braun, fast wie ihr kastanienfarbenes Haar; die aufeinander abgestimmten Lilatöne von Bluse und Schmuck passen perfekt dazu. Sofort fasst man Vertrauen – diese Frau vermittelt ihrem Gegenüber das Gefühl, alles fragen zu können und bestimmt eine kompetente Antwort zu bekommen. Etwas anders sieht so ein erster Kontakt für sie selbst aus. «Wenn die Leute durch die Eingangstür kommen, kann ich sie noch nicht sehen, erst, wenn sie direkt vor mir stehen.» Mitarbeitende erkennt Heidi Schuhmacher vor allem an den Stimmen, eine Kollegin an der pinkfarbenen Jacke, den einen oder anderen Kollegen am Geruch. Sie tippt sich an die Nase: «Ja, ich habe eine sehr feine Nase. Das kann wunderbar sein, etwa in der Natur, oder auch mühsam, in einem vollgestopften Bus.»
Von Montag bis Donnerstag pendelt Heidi Schuhmacher von Laupen mit dem öffentlichen Verkehr ins MBA, wo sie aktuell vier halbe Tage arbeitet. Das Poschi hält praktisch vor ihrem Wohnhaus, doch sie benutzt es nur bei starkem Regen. «Loony braucht viel Bewegung, deshalb starten wir meist um sechs Uhr früh zu Fuss.» Eine halbe Stunde später steigen die beiden in die S-Bahn, Schuhmacher hat ein GA. Vor zwanzig Jahren, als sie ebenfalls in Bern arbeitete, konnte sie sich am zentralen Bahnhof noch bewegen – heute sind dort schlicht zu viele Menschen unterwegs. «Oft rempeln mich Leute an, weil sie ins Handy schauen und mich mit dem Führhund nicht sehen», stellt sie fest, «und auch sonst ist man rücksichtsloser unterwegs.» Beim Ein- und Aussteigen liessen Mitreisende ihr früher oft den Vortritt, nun wird sie manchmal sogar abgedrängt. Im Wankdorf steigt sie mit Loony aus, dort ist es überschaubar, und der Breitenrain ist nah
«Erste Hilfe» am Empfang
Am Arbeitsplatz zieht Heidi Schuhmacher den Computerbildschirm ganz nahe zu sich heran. Die Schriftgrösse stellt sie auf 150 Prozent ein, das reicht. Wichtig ist für sie, dass niemand auf dem Desktop ihr Ordnungssystem verändert – etwa die Lernenden, die sie während der Pause an der Loge vertreten. Denn sonst ist es für sie als Sehbehinderte mühsam, Dokumente wiederzufinden. Nachdem sie das allen erklärt hat, klappt es ganz gut. Um die Post in die Fächer zu verteilen, benutzt sie eine Lupe – oft sind die Namen der Adressaten winzig klein.
Doch das alles kennt Heidi Schuhmacher schon länger. Früher arbeitete sie bei der Bundesverwaltung, ihre letzte Stelle vor der beruflichen Pause hatte sie bei der Stadtpolizei. «Da kamen oft Leute an den Empfang, um eine Anzeige zu machen», erzählt sie, «aufgebracht, weil ihnen etwas passiert war. Sie wussten manchmal nicht, was zu tun war. Ich habe jeweils sehr gern geholfen, und es ist mir auch hier im MBA wichtig, dass die Leute echte Hilfe bekommen.»
«Heidi ist eine ausgesprochen freundliche und hilfsbereite Frau, die aufgrund ihrer Persönlichkeit von allen gemocht wird», konstatiert Amtsvorsteherin Barbara Gisi. «Sie hat sich trotz ihres Handicaps rasch und sehr gut eingearbeitet.» Umgekehrt betont Heidi Schuhmacher, dass sie nach der anfänglichen Hürde beim Bewerbungsgespräch sehr gut aufgenommen worden sei beim MBA. «Das habe ich so noch nie erlebt», sagt sie. Vor allem in der Bundesverwaltung, da sei sie nur ein namenloses Zahnrädchen gewesen. Nun erfahre sie viel Wertschätzung.
Auch die Führhündin wird geschätzt. Es gib im MBA Mitarbeitende, die in Stresssituationen zu Heidi Schuhmacher in die Loge kommen und fragen, ob sie Loony ein wenig kraulen dürften. Die braune Labradordame ist sanft und mag die meisten Menschen. Ihre Halterin weiss, dass Loony manchmal Wunder wirkt: «Nach fünf Minuten geht die Kollegin aus dem fünften Stock wieder und meint: ‹Nun gehts mir besser!›. Und ich antworte: ‹Du kannst jederzeit wiederkommen.›»
Manche Träume bleiben Träume
Bevor sie Mutter wurde, entschloss sich Heidi Schuhmacher, via AKAD die Matura zu machen und zu studieren. Pädagogische Psychologie sollte es sein. Sie schrieb sich an der Uni Freiburg ein, just zur Zeit der Umstellung auf das Bologna-System. Dies brachte viel bürokratischen und organisatorischen Aufwand mit sich, der für die sehbehinderte Studentin kaum zu bewältigen war. So musste sie bald aufgeben, obwohl das Fach sie immer noch brennend interessiert hätte. Beim Erzählen verbirgt Heidi Schuhmacher ihr Bedauern nicht.
Umso wichtiger ist es für sie, nun wieder arbeiten zu können. Hat sie zu Hause die entsprechende Unterstützung, wird sie von der Familie im Haushalt entlastet? «Wir sind da in einem Prozess», antwortet sie diplomatisch. Die Tochter ist 18 Jahre alt, der Sohn 17, beide noch daheim, aber doch schon sehr nach aussen orientiert, im eigenen Leben unterwegs. Ihre Erfahrung als Mutter prädestiniert Heidi Schuhmacher für den Dienst in der Loge des MBA, wo oft besorgte Eltern oder ratlose Jugendliche anrufen. Ihnen allen begegnet sie mit viel Verständnis. Aber sie hat auch gelernt, zu sich selbst zu schauen und «Me-Time» in ihren Alltag einzubauen. Sie macht eine Yogatherapie, spielt Klavier. Was für Musik? Barock! Etwas kapriziös darf es in ungestörten Momenten ja auch mal sein.
Heidi Schuhmacher (56)
arbeitet am Empfang des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes in Bern. Sie ist sehbehindert und stützt sich im Alltag auf einen Führhund. Mit ihrer Familie lebt sie in Laupen.
Tina Uhlmann
Foto: Pia Neuenschwander
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