Wie wirken sich integrative schulische Massnahmen beim Übergang in die Berufsausbildung bei Jugendlichen aus? Dieser Frage ging ein Forschungsteam der PHBern nach. Die neuesten Erkenntnisse zeigen: Es gibt Chancen und Risiken.

RILZ und NAG – hinter diesen Kürzeln verbergen sich integrative Massnahmen, die für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf gedacht sind. Die Massnahmen haben zum Ziel, Chancengleichheit zu fördern. Das Forschungsteam der PHBern ging im Projekt LABIRINT den Fragen nach, wie sich integrative schulische Massnahmen im Kanton Bern auswirken und wohin die Bildungswege der integrativ beschulten Jugendlichen führen. Es wurde mit einem Fragebogen (Stichprobe: 2297 Jugendliche) und 17 vertiefenden Interviews untersucht, wie reduzierte individuelle Lernziele (RILZ) und Nachteilsausgleich (NAG) den Übergang in die Sekundarstufe II beeinflussen. LABIRINT ist ein Teilprojekt der Langzeitstudie BELIMA (siehe Box).
Wirkung unterschiedlich
Die Resultate zeigen nun: Die Massnahmen haben unterschiedliche Auswirkungen auf den Übergang in die Berufsausbildung und die nachobligatorischen Bildungsverläufe. Untersucht wurden immer Lernende mit und ohne Massnahmen, die beispielsweise in Bezug auf Geschlecht, soziale Herkunft, Migrationshintergrund und Schulleistung vergleichbar sind. Für den NAG konnten keine negativen Effekte auf die nachobligatorische Ausbildung gefunden werden. Andere Ergebnisse zeigen sich bei RILZ: Lernende mit RILZ absolvieren eher Ausbildungen mit tieferem kognitivem Anforderungsniveau als vergleichbare Lernende ohne RILZ. Viele von ihnen machen eine Ausbildung mit EBA (eidg. Berufsattest).
Bisherige Ergebnisse aus der Längsschnittstudie im Überblick
| Massnahme | Befunde obligatorische Schulzeit | Befunde Übergang Berufsausbildung |
|---|---|---|
RILZ
|
Wird eher an Lernende mit tieferem sozioökonomischem Hintergrund vergeben.
|
|
NAG
|
Wird eher an Lernende mit hohem sozioökonomischem Hintergrund vergeben.
|
|
«Lernende mit RILZ können ihre Berufswünsche weniger verwirklichen als vergleichbare Lernende ohne RILZ», stellt Kathrin Brandenberg vom Forschungsteam fest. Das könnte daran liegen, dass die Jugendlichen aufgrund des RILZ-Vermerks im Zeugnis in eine Berufsausbildung mit tieferen kognitiven Anforderungen «hineinberaten» werden. Als mögliche Folge davon trauen sich die Lernenden selbst weniger zu.
Bruch beim Übergang zu Berufsschulen
Eine weitere Erkenntnis der Studie: Beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II, also Gymnasium oder Berufsschule, entsteht ein Bruch. Integrative Massnahmen werden nicht systematisch weitergeführt. Die Berufsschulen wissen nicht, ob die Lernenden in der Grundschule RILZ oder NAG erhalten haben. Bei den qualitativen Interviews gaben die Jugendlichen an, dass es schwierig war, an der Berufsschule Unterstützung zu beantragen. Ein Jugendlicher berichtet: «Ich habe nachgefragt wegen einem NAG. Auf der Website stand, dass es angeboten werde. Aber dann wollte niemand etwas davon wissen. Das Einzige, das ich erhalten habe, war einmal in der Woche am Abend einen Stützkurs.» Nach einem Jahr wechselte er von einer EFZ- zu einer EBA-Ausbildung.
«Deshalb ist es sehr wichtig, dass niederschwellige Anlaufstellen für individuelle Unterstützung durch Fachpersonen zur Verfügung stehen», ergänzt Sara Lustenberger, Mitglied des Forschungsteams, die Aussage des Jugendlichen. Weitere Empfehlungen lauten:
- Heilpädagogische Fachpersonen sollten gezielt an Berufsschulen eingesetzt werden.
- Heilpädagogische Fachpersonen, Lehrpersonen und Berufsbildungsverantwortliche sollten eng kooperieren.
- Schulen, Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe sollten über Kompetenzen und Ressourcen verfügen, damit alle Lernenden möglichst gut unterstützt und gefördert werden können.
Schlussfolgerungen
Caroline Sahli Lozano, Leiterin des Forschungsprojekts, weist darauf hin, dass es grosse Unterschiede bei der Vergabe und Umsetzung von integrativen Massnahmen gebe. Hier liegt die Gefahr, «dass Chancenungleichheit geschaffen wird. Um die Unterstützung bedarfsgerecht vergeben und sinnvoll umsetzen zu können, braucht es Fachwissen.» Anders gesagt: Genaues Hinschauen ist angesagt. Die Empfehlungen des Forschungsteams lauten entsprechend:
- RILZ und NAG sollten sorgfältig vergeben, kritisch überprüft und mit Unterstützung durch eine heilpädagogische Fachperson verbunden werden. Die Vergabe sollte sozial gerechter gestaltet werden, damit auch Kinder aus benachteiligten Familien Zugang zu NAG erhalten.
- Der Vermerk der RILZ im Zeugnis kann stigmatisierend wirken und sollte überdacht werden (Portfolio statt Zeugnis).
- Lehr- und Fachpersonen müssen für die Chancen und Risiken integrativer Massnahmen sensibilisiert werden.
- Auf Sekundarstufe II sollten flächendeckende Unterstützungsgefässe geschaffen und etabliert werden, um eine Kontinuität zu gewährleisten.
Die Studie zeigt klar: Integrative Massnahmen können sowohl Brücken als auch Barrieren sein. Entscheidend ist, wie sie eingesetzt und begleitet werden. Die Erkenntnisse sollen für mögliche unbeabsichtigte Auswirkungen sensibilisieren und dazu beitragen, dass Lernende bestmöglich unterstützt, statt eingeschränkt werden. Der Vorteil von integrativen Schulen gegen über Sonderschulen liegt trotz allem darin: Lernende von integrativen Schulen erlangen meistens einen Lehrabschluss im ersten Arbeitsmarkt.
Weiter gehts mit LABIRINT II
Im August 2025 startete LABIRINT II. Die Forschenden verfolgen dieselbe Gruppe weiter. Im Vordergrund steht dieses Mal die Zusammenarbeit mit Akteurinnen und Akteuren aus Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben. Daraus sollen konkrete Unterstützungsmöglichkeiten abgeleitet werden.
Integration erwünscht?
Die PHBern hat vielfältige Angebote in Aus- und Weiterbildungen und Forschungsprojekte zum Thema Integration.
Langzeitstudie BELIMA und Teilprojekt LABIRINT
Die Pädagogische Hochschule Bern verfolgt seit über zehn Jahren in der Langzeitstudie BELIMA (Berner Längsschnittstudie integrative schulische Massnahmen) die schulischen Wege von Lernenden, die in der obligatorischen Schule (Primar- und Sekundarstufe I) integrative Massnahmen erhalten haben. Das Teilprojekt LABIRINT (Langfristige Bildungsverläufe von Regelschülerinnen und -schülern mit integrativen schulischen Massnahmen im Kanton Bern) fokussiert den Übergang von der Sekundarstufe I zu nachobligatorischen Ausbildungswegen und ist ein Kooperationsprojekt mit der Universität Bern (Prof. Dr. Rolf Becker). LABIRINT wird vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und der PHBern finanziert.
Sandra Liechti
Fotos: Sandra Liechti
EDUCATION 3.25