Mangelhafte Grundkompetenzen machen zahlreiche Alltagssituationen zum Spiessrutenlauf und mindern neben dem Selbstwert auch die Lebensqualität. Oft ein Teufelskreis, den die Betroffenen nur schwer durchbrechen können.
Sebastian Steffen und Stefania Orlacchio haben es u. a. dank Grundkompetenzkursen geschafft und erzählen davon, wie sie durch einen besseren Umgang mit ihrer Lese- und Schreibschwäche zu mehr Selbstvertrauen gefunden haben. Sie haben auf ihre Umstände reagiert, Grenzen überwunden und können heute ihren Lebensweg selbstbestimmt begehen.
Sebastian Steffen (40)

gewinnt mit einer Lese- und Rechtschreibstörung den kantonalen Literaturpreis. Der Autor, Musiker und Kinderbetreuer hat seine Schwäche zur Stärke gemacht. Das Schreiben hilft ihm, sein Chaos im Kopf zu ordnen. Durchs Beobachten und Schreiben bricht er Gedanken auf ihre Essenz herunter und macht sie somit besser verständlich.
Herr Steffen, können Sie beschreiben, welche Alltagssituationen für Sie schwierig sind und wie Sie damit umgehen?
Sebastian Steffen Eigentlich ist jede SMS eine Herausforderung. Das Lesen geht; aber antworten? Das braucht viel Energie. Mit Lesen und Schreiben verbinde ich keine positiven Gefühle. Eine Nachricht löst immer zuerst Stress aus. Entweder überwinde ich diesen rasch und antworte, oder ich schiebe die Antwort vor mich hin. Letzteres führt dazu, dass ich gar nicht oder zu spät antworte. Vergessen kann ich es aber nie! Verdrängen gelingt mir nur für eine kurze Zeit. Danach spüre ich wieder den wachsenden Klumpen im Bauch und muss mich dazu überwinden, zu antworten.
Darum mag ich Sprachnachrichten. Mir fällt es leichter, den Inhalt zu verstehen, und mein Umfeld hat Verständnis dafür, dass ich sie bevorzuge. Ich merke aber, nicht alle mögen sie. Deshalb versuche ich, mich in Sprachnachrichten so kurz wie nötig zu halten.
Mit der Zeit habe ich mir verschiedene Techniken angeeignet, um mit Schwierigkeiten umzugehen. Diese wende ich aber nicht immer konsequent an. Mir hilft es, wenn ich mich zwinge, Anfragen direkt zu beantworten. Oder morgens zu schreiben, anstatt nachts, vor dem Schlafengehen. Und auch ChatGPT hilft mir ab und zu: Dank KI spare ich viel Zeit, und mir nimmt das Tool ein wenig den Stress. Gleichzeitig hat KI etwas Beängstigendes.
Gehen Sie heute anders mit Ihrer Lese- und Rechtschreibstörung um als früher?
Früher in der Schule bin ich an meiner Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) fast verzweifelt. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder etwas zu machen, das mit Schreiben und Lesen zu tun hat. Dann merkst du, wie oft du trotzdem dazu gezwungen bist im Alltag: Ich muss Steuererklärungen ausfüllen, Briefe lesen, mich mit Versicherungen rumschlagen. In solchen Situationen verlor ich früher jede Hoffnung.
Über die Jahre und mithilfe von Psychotherapie hat sich meine Situation verbessert. Durch die Auseinandersetzung mit mir und meinem Zugang zum Lernen, entwickelte ich für mich passende Techniken: Ich bin eher der auditive Lerntyp, verarbeite Informationen einfacher übers Gehör oder darf auf Hilfsmittel wie Wikipedia zugreifen. Dank dieser Techniken wurde das LRS- und Schreib-Thema immer weniger emotional. Es bleibt aber mit Schmerz verbunden, heute kann ich damit aber besser umgehen.
Was oder wer motiviert Sie, sich trotz Ihrer LRS so intensiv mit Sprache zu beschäftigen?
Mein Haupttreiber ist es, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen, indem ich sinnvolle Sätze herausschäle. Durch Beobachten und Schreiben, breche ich diffuse Gedanken auf ihre Essenz herunter und verstehe sie damit besser. In meiner Kindheit las mir meine Mutter viele Geschichten vor, und wir schauten zusammen viele Filme. Vielleicht habe ich da ein Gefühl für Bildsprache entwickelt. Was muss gesagt werden? Was nicht? Wenn ich früher alleine las, gelang mir das nicht.
Ihre Romane werden öffentlich diskutiert, gelobt, sogar ausgezeichnet. Vom Schreiben abgesehen: Worin, finden Sie, sind Sie gut, oder was machen Sie gerne?
Mein Durchhaltewillen ist ausgeprägt, und ich mag es nicht, entmutigt zu werden. Ich bin sehr neugierig. Diese Grundneugier bringt mich dazu, Bücher zu schreiben oder mich Dingen zu stellen, die ich mir im ersten Moment nicht zutraue. Dank ihr, sehe und freue mich über vermeintlich kleine, alltägliche Dinge.
Was macht Ihnen Mut, weiter zu lernen?
Ich setze mich gerne mit Dingen auseinander, die ich entweder im Alltag brauche oder mich interessieren. Solange ich lebe und neugierig bleibe, werde ich Neues finden, das mich interessiert und womit ich mich auseinandersetzen will.
Möchten Sie anderen betroffenen Personen etwas mitteilen?
Das ist eine schwierige Frage. Lebenssituationen sind so vielfältig, dass einfache Antworten diesen nicht gerecht werden. Mir half die Auseinandersetzung mit mir und den schmerzhaften Erfahrungen in der Therapie; Schmerz und Erfahrungen sprachlich ausdrücken, ein neuer Umgang erlernen und mich weiterentwickeln, weiterzukommen.
Was sagen Sie Personen, die noch nie etwas über Grundkompetenzen gehört haben?
Das Thema müsste in der Öffentlichkeit sichtbarer werden. Auch über Medien. Eine LRS hat nichts mit kognitiven Fähigkeiten zu tun! Sie hat komplexe, vielfältige Ursachen und sollte nicht nur als Beeinträchtigung gesehen werden. Vielleicht sollten wir uns selbst häufiger fragen, worum es uns wirklich im Leben geht. Über die Auseinandersetzung mit unseren Werten lernen wir vielleicht auch mehr, die Vielfalt menschlicher Fähigkeiten mehr zu schätzen.
Stefania Orlacchio (43)

lässt sich von ihrer Schreibschwäche nicht entmutigen. Im Interview erzählt die selbstständige Masseurin über die Hürden des Alltags, wie sie diese überwindet, und von ihrem Ziel, die Berufsmaturität zu absolvieren.
Können Sie beschreiben, welche Alltagssituationen für Sie schwierig sind und wie Sie damit umgehen?
Stefania Orlacchio Ich habe vor allem dann Schwierigkeiten im Alltag, wenn ich E-Mails schreiben muss. Zum Beispiel eine schriftliche Reklamation. Meistens kann ich meine Gedanken nicht so aufschreiben, wie ich möchte, oder finde nicht die richtigen Worte. Diese Herausforderung probiere ich mit Hilfsmitteln wie Google, Rechtschreibkorrekturprogrammen oder KI zu meistern.
Hat der Lese- und Schreibkurs, den Sie besucht haben, etwas verändert?
Ja. Denn im Grundkompetenzenkurs habe ich gelernt, mir mehr Zeit beim Schreiben und Lesen zu nehmen. So erkenne ich Fehler besser und kann die gelernten Regeln anwenden.
Was oder wer motivierte Sie, sich für ein Grundkompetenzenkurs anzumelden?
Ich habe verstanden, dass ich jetzt meine Zeit nutzen und meine Komfortzone verlassen muss. Ich habe der Wahrheit ins Auge geschaut und mir gegenüber zugegeben: «Ich habe Mühe mit Schreiben.» Meine grösste Motivation war letztlich meine Ehrlichkeit zu mir selbst.
Hat Ihnen der Besuch im Grundkompetenzenkurs gefallen?
Der Kurs war voll mit Aha-Momenten! Daher: ein grosses JA! Er hat mir sehr gefallen.
Hat sich durch den Kurs für Sie etwas verbessert?
Die grössten Verbesserungen sind, dass ich gelernt habe, keine Angst vor Schreibfehlern zu haben und dass ich mir die Zeit nehmen darf, die ich brauche.
Empfehlen Sie anderen Betroffenen einen Kursbesuch? Wenn ja, wieso?
Ich empfehle allen, einen Grundkompetenzenkurs zu besuchen, die mit dieser Unsicherheit leben. Die Freiheit, die man dadurch gewinnt, ist ein grosses Geschenk!
Worin liegen Ihre Stärken?
Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Meine Stärke liegt – in Bezug auf die Grundkompetenzen – eher im Klein- oder Grossschreiben.
Was gibt Ihnen Mut weiterzulernen?
Mein Wunsch ist es, mich für die Berufsmatur anzumelden. Daraus ziehe ich Kraft, weiterzumachen und weiterzulernen.
Was möchten Sie anderen betroffenen Personen mitteilen?
Wenn du deine Komfortzone kennst und an dieser Grenze arbeitest, kannst du nur gewinnen (lacht).
Was möchten Sie Personen sagen, die noch nie etwas über Grundkompetenzen gehört haben?
Ich würde mit kleinen Beispielen anfangen und ihnen da einfache Tricks zeigen. Spielerische Übungen helfen dabei, die Grammatikregeln zu verstehen und so nie mehr zu vergessen, beispielsweise wie ich «das» und «dass» oder «wieder» und «wider» unterscheide.
«Einfach besser!»
Zu den Grundkompetenzen zählen Lesen, Schreiben, Rechnen sowie Anwendungen digitaler Medien. Schweizweit sollen 800 000 Personen damit Schwierigkeiten haben. Die nationale Kampagne «Einfach besser!» hat sich diesem Thema angenommen und bietet zahlreiche Grundkompetenzenkurse an. Sie sensibilisiert die Bevölkerung und will Betroffene zu einem Kurs für Lesen, Schreiben, Rechnen oder digitale Geräte motivieren. So trägt sie zur Förderung der sozialen Integration, der Arbeitsmarktfähigkeit und einer besseren Lebensqualität sowie zur Enttabuisierung des Themas in der Gesellschaft bei.
Fabienne Müller
Aline Leitner
Christoph Schelhammer
Fotos: Florian Spring
EDUCATION 4.24