Wie kommen wir eigentlich zu unserem Beruf? Wie finden wir raus, was zu uns passt? Und was, wenn wir einen «falschen» Weg eingeschlagen haben? Diese Fragen haben wir mit Marianne Rust, Berufs- und Laufbahnberaterin beim BIZ Bern, beleuchtet.
Wir sprechen heute über Berufsbildungswege. Welchen Weg haben Sie denn genommen, um als BIZ- Beraterin heute hier zu sitzen?
Marianne Rust Ich habe Arbeits- und Organisationspsychologie studiert und war danach für mehrere Jahre in der Unternehmensberatung und Personalentwicklung tätig. Dann habe ich einen etwas anderen Pfad eingeschlagen und Anfang 40 den Master of Advanced Studies in Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung gemacht. Anschliessend bin ich in die Laufbahnberatung gewechselt und nun seit sechs Jahren im BIZ Bern tätig.
Ein Besuch beim BIZ gehört zum Standardprogramm der Schülerinnen und Schüler. Was genau passiert beim BIZ?
Das Angebot des BIZ ist vielfältig. Ein grosser Teil unserer Arbeit besteht aus der Berufsberatung. Wir beraten Jugendliche in ihrer Aufgabe, ihren Beruf zu finden. Wir zeigen ihnen die Wege, die ihnen offenstehen. Und wir unterstützten sie dabei, den für sie richtigen zu finden. Von Informationsveranstaltungen, Kurzgespräche in den Schulen über enge Betreuung im Case Management bis hin zu Übungen fürs Vorstellungsgespräch. Wir bieten eine ganze Palette von Möglichkeiten an, die den Jugendlichen helfen, ihren individuellen Weg zu gehen.
Marianne Rust (50)

ist seit sechs Jahren beim BIZ Bern tätig und berät dort einerseits Jugendliche in Sachen beruflicher Grundbildung und steht andererseits Erwachsenen für Laufbahnberatungen zur Verfügung. Sie hat Arbeits- und Organisationspsychologie studiert und später den Master of Advanced Studies in Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung absolviert.
Wer ist denn dafür verantwortlich, dass Schülerinnen und Schüler ihren idealen Weg finden?
Die grösste Verantwortung tragen die Jugendlichen und ihre Eltern. Doch sie sind von mehreren Menschen und Ansprechpartner umgeben, die sie bei ihrer Aufgabe unterstützen. Sinnbildlich könnte man ein Uhrwerk mit seinen Zahnrädern nehmen. Jede Komponente ist relevant und hat eine Aufgabe zu erfüllen, damit das Ziel erreicht werden kann.
Was ist die konkrete Aufgabe des BIZ?
Wir als BIZ bilden eines dieser Zahnräder. Unsere gesetzliche Aufgabe ist es, als kompetentes, neutrales Dienstleistungszentrum Menschen im Kanton Bern in Fragen zur Berufs- und Ausbildungswahl zu informieren, zu beraten und zu unterstützen. Eine wichtige Rolle kommt auch den Eltern und der Familie zu. Als wichtigste Begleiterinnen oder Begleiter bei der Berufswahl decken sie Aspekte wie Persönlichkeitsbildung oder die Erziehung ab.
Gibt es weitere zentrale Ansprechpartner?
Weitere Schlüsselstelle ist die Wirtschaft selbst, die Infoveranstaltungen anbieten, Tage der offenen Türen veranstalten oder Schnupperlehren und Lehrstellen anbieten. Auch die Lehrpersonen tragen eine wichtige Rolle, denn sie setzen die im Lehrplan 21 festgehaltenen Lernziele zur beruflichen Orientierung um.
Ob Lehrperson, BIZ-Beraterin bzw. -Berater, Lehrbetrieb oder Eltern – wir alle stellen den Schüler oder die Schülerin in den Mittelpunkt und seine bzw. ihre Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten. Wir zeigen quasi auf einer Wanderkarte, welche Ausrüstung es für welche Wanderung braucht, wie lange sie dauert und welche verschiedenen Wege es gibt. Das Ziel jedoch bestimmt die Schülerin bzw. der Schüler.
Sich zwischen 13 und 15 Jahren für einen Weg zu entscheiden, ist schon eine grosse Herausforderung. Wie gehen die Jugendlichen mit dieser Aufgabe um?
Einige Jugendliche sehen bereits zu Beginn der Beratung im BIZ einen klareren Weg vor sich und wissen auch, welches Rüstzeug sie brauchen. Andere brauchen mehr Unterstützung. Es ist eine Herausforderung und teilweise eine Überforderung, sich bei über 250 Lehrberufen und diversen Mittelschulen und Studienrichtungen für einen Anfangsschritt zu entscheiden. All jene, die in der Berufsfindung eine Rolle spielen, unterstützen die Jugendlichen bestmöglich. Im BIZ begleiten wir den Prozess der Berufswahl mit Informationen und regen die Jugendlichen an, über sich zu reflektieren, beispielsweise mit verschiedenen Tests und Beratungsinstrumenten. Sehr wichtig ist auch das Erkunden der Berufswelt und das gemeinsame Auswerten der Eindrücke davon.
Inwiefern ist der Berufsfindungsprozess heute anders als, sagen wir, vor 50 Jahren?
Die Auseinandersetzung mit der Berufswelt ist heute systematischer. Bereits in den Zyklen 1 und 2 gibt es Schulmaterialien, mit denen Kinder spielerisch das Thema Beruf erlernen. Es ist kein Sprung ins kalte Wasser mehr, sondern ein Reifeprozess, der im Lehrplan 21 seine Basis findet. Schnuppern, Berufswahlunterricht, ein obligatorischer Besuch an der Berufs- und Ausbildungsmesse oder digitale Tools. Das alles sind Elemente, die es früher noch nicht gab. Auch das Berufssystem hat sich sehr verändert.
Können Sie das konkretisieren?
Unser Berufssystem ist vielfältiger geworden. Früher gab es schlicht weniger Auswahl. Es gibt diverse neue Berufe, die auch dank der Digitalisierung entstanden sind. Und der Wert der Arbeit im gesellschaftlichen Kontext hat sich verändert. Das Berufsleben wird als Projekt, als Reise angesehen. Beruf dient heute auch häufiger zur Selbstverwirklichung, als dies früher der Fall war. Lebenslanges Lernen, Sich Weiterentwickeln, Arbeitsmarktfähigkeit, Agilität: Das sind die Themen, die heute in der Berufswelt viel Raum einnehmen.
In welchem Ausmass ist unser Berufssystem denn agil?
Das Berufsbildungssystem ist praxisorientiert, und die Lernenden lernen jene Aspekte, die es wirklich im Beruf braucht. Die Lehre ist keine Schnell bleiche, sondern eine fachlich fundierte und praxisorientierte Ausbildung mit hohem Stellenwert. Das Angebot wird stetig weiterentwickelt und an die Bedürfnisse der Arbeitswelt angepasst.
Und der Systemdurchlässigkeit haben wir unter anderem zu verdanken, dass der Druck auf die Jugendlichen in Bezug auf die Berufsfindung abnimmt. Das Wissen darum, dass sie sich nicht für immer entscheiden und sie ihren Weg immer wieder neu gestalten können, entlastet mental sehr. Die Durchlässigkeit ist ein Teil des Erfolgs unseres Berufssystems.
Gibt es auch Schattenseiten?
Die Überforderung durch die Menge an möglichen Wegen ist sicherlich eine Kehrseite der Medaille. Und nicht alle Menschen können ihre beruflichen Wünsche auf direktem Weg verwirklichen. Ob einschränkende schulische Fähigkeiten, die soziale oder persönliche Situation oder limitierende finanzielle Ressourcen: Die Gründe dafür sind vielfältig. Oft braucht es einen Umweg, um zum Ziel zu gelangen.
Und was passiert, wenn jemand auf dem Holzweg ist?
Dann gibt es die Möglichkeit, die Richtung zu ändern. Oder sich – zum Beispiel von den BIZ im Kanton Bern – beraten zu lassen. Von Laufbahnberatungen bei beruflicher Neuorientierung oder bei Burnout bis hin zu Arbeitsmarkttauglichkeitstests. Das Angebot ist vielfältig – auch für Erwachsene, die ihren richtigen Weg noch nicht gefunden haben.
Gibt es denn den ultimativ richtigen Weg, wie man die Berufswahl angehen sollte?
Der berufliche Weg ist eine sehr individuelle Sache. Es gibt jedoch einen Berufswahlfahrplan, der als Orientierung dient und aufzeigt, wann idealerweise welcher Schritt gemacht werden sollte. Dort ist beispielsweise festgehalten, dass ab der Primarschule die eigenen Stärken, Fähigkeiten und Interessen erkundet und im 7. und 8. Schuljahr die Berufswelt kennengelernt werden sollte.
Idealerweise weiss jeder Schüler und jede Schülerin Ende des 8. Schuljahres, welchen Weg er oder sie beschreiten möchte. Doch ganz so fix ist es nicht. Jeder Schüler und jede Schülerin ist individuell. Also nein; es gibt nicht «den richtigen Weg». Den muss es auch nicht geben. Denn man kann ihn immer wieder anders gestalten. Das ist das Positive an unserem System.
Zum Schluss bleibt noch eine Frage. In den sechs Jahren als BIZ-Beraterin, gibt es eine Schülerin oder einen Schüler mit speziellem Weg, der oder die Sie nachhaltig geprägt hat?
Ja, da gab es einen Schüler, der während seiner Volksschulzeit zweimal eine Klasse wiederholen musste. Doch er träumte davon, studieren zu gehen. Niemand hätte ihm eine Empfehlung für den «Gymer» gegeben. Also hat er sein Glück selbst in die Hand genommen, sich für die Aufnahmeprüfung angemeldet und diese geschafft. Nun ist er erfolgreich im zweiten «Gymer»-Jahr und auf bestem Weg, seinen Traum zu erfüllen. Dieses Beispiel zeigt wunderbar, dass manchmal mehr möglich ist, als auf den ersten Blick angenommen wird. Es ist aber immer wichtig, einen realisierbaren Plan B in der Tasche zu haben.
Berufliche Orientierung im Lehrplan 21
Im Lehrplan 21 ist die berufliche Orientierung als verbindlicher Auftrag der Schule verankert. «Die Schulleitung sorgt für die rechtzeitige Information der Eltern und der Schülerinnen und Schüler über Beurteilung, Übertrittsverfahren, Schullaufbahnentscheide und Bildungsgänge.» Ein wichtiger Teil des Bildungsauftrags der Schule ist die Vorbereitung der Jugendlichen auf eine Ausbildung auf Sekundarstufe II. Möglichst alle Jugendlichen sollen am Ende der Sekundarstufe I eine Anschlusslösung haben. Die Steuerung des Berufswahlprozesses liegt in der Verantwortung der Schulen. Sie werden darin durch die BIZ unterstützt. Wichtig im Prozess sind: Beginn und Abschluss, frühe Sensibilisierung der Eltern und Jugendlichen, Motivation und Animation von Jugend lichen und Eltern sowie die Verlaufskontrolle.
Aline Leitner
Foto: Pia Neuenschwander
EDUCATION 4.24