Gemäss neuen Forschungen gehört Mitgefühl zur emotionalen Grundausstattung des Menschen. Es ist wichtig für das friedliche Zusammenleben und kann trainiert werden. Berner Schulen wenden dafür das SEE Learning an. Was das ist und wie es funktioniert, erklären drei involvierte Fachfrauen.

Der Krieg beginnt im Klassenzimmer. Wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr unterrichten können, weil die Kinder herum schreien, provozieren, sich prügeln, dann geht es statt ums Lernen nur noch um Deeskalation. Viele beklagen den Umstand, dass sie immer mehr Zeit bräuchten, um im Schulzimmer Ruhe herzustellen, sich durchzusetzen und gehört zu werden. Dies verursacht nicht nur grossen Stress, sondern vergiftet zusätzlich die Lernatmosphäre. Deshalb sind an Schulen neue Ansätze zum Umgang mit Emotionen gefragt. Einen solchen bietet das amerikanische SEE Learning – soziales, emotionales und ethisches Lernen (siehe Kasten). Zurzeit experimentieren diverse Schulen im Kanton Bern damit, so auch eine im Westen der Hauptstadt.
Den Sturm im Schulzimmer bewältigen
«Der Junge ist schon lange bei uns und hat grosse Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation. Wenn er ab und zu austickt, dann können auch mal Dinge durchs Schulzimmer fliegen», erzählt Barbara Jüsy, Basisstufenlehrerin in Bern-Bümpliz und Anwenderin von SEE Learning. «Nach einem Streit in der Pause kommt er ins Klassenzimmer. Er ist sehr wütend, das sieht man an seinem Gesicht und der Körperhaltung. Er geht zu unserer Glückswand und verschiebt sein Foto in die Sturmzone. Danach sagt er zu mir: ‹Frau Jüsy, ich komme noch nicht in den Kreis, ich bin zu wütend.› Er sucht die Garderobe auf, um dort einen Stoffwürfel an die Wand zu kicken. Dieses Kicken, das ist seine Strategie, über Jahre erarbeitet. Nach fünf Minuten kommt er in den Kreis zurück und sagt mir, mehr brauche es für ihn gerade nicht, er könne nun wieder mitmachen.»
So einfach ist das? Natürlich nicht. Hinter einer so geglückten Selbstregulation stecken viel Aufbauarbeit vonseiten der Lehrerin und ein langer Lernprozess des Schülers. Dabei setzt SEE Learning bei der Körperwahrnehmung und Sprache an. «Ich übe mit den Kindern einen gemeinsamen Wortschatz zu sozialen und emotionalen Themen ein», erklärt Barbara Jüsy.
Nach SEE Learning gibt es drei Zonen: Die Okayzone, in der es einem gutgeht, man entspannt und reguliert ist; die Sturmzone, in der man viel Energie im Körper hat, wütend, ängstlich oder nervös ist; und die Windstillezone, in der man wenig Energie hat, sich schlapp, müde oder traurig fühlt. Die Kinder lernen, ihre eigene Befindlichkeit wahrzunehmen, einzuordnen und an deren gegenüber zu benennen.
Kernelemente und Anwendung von See-Learning im Unterricht
SEE Learning (soziales, emotionales und ethisches Lernen) ist ein Bildungsprogramm, das an der einst von Methodisten gegründeten Emory University von Atlanta, USA, für den internationalen Einsatz entwickelt und 2019 in Neu-Delhi lanciert wurde. Kernelemente sind das Mitgefühl als Fundament für eine ethische Ausrichtung, die Schulung der Aufmerksamkeit, Resilienz und Selbstregulierung sowie systemisches Denken und globales Engagement. Aufbauend auf ein kompaktes didaktisches Rahmenkonzept werden Unterrichtsmaterialien für die Altersstufen fünf bis sieben Jahre, acht bis zehn Jahre und ab elf Jahren angeboten. Pro Stufe gibt es ein Heft mit je sieben Kapiteln und einem Abschlussprojekt. Weitere Lehrmittel für die Oberstufe und für Erwachsene sind in Arbeit. Der gemeinnützige Verein SEE Learning Schweiz, 2020 gegründet, arbeitet eng mit der Partnerorganisation in Deutschland zusammen und ist im regelmässigen Austausch mit der Emory University.
Silvia Wiesmann (66)
hat in den USA einen Masterlehrgang in körperorientierter Psychotherapie absolviert und sich in der Hospizarbeit lange Zeit mit Sterbenden beschäftigt. Sie ist Körpertherapeutin, MBSR1-Lehrerin und Erwachsenenbildnerin, Präsidentin des Vereins SEE Learning Schweiz, den sie 2020 mitgegründet hat.
Barbara Jüsy (34)
ist Sozialpädagogin, Schulische Heilpädagogin und Klassenlehrerin in Bern-Bümpliz. Sie unterrichtet SEE-Learning seit 2018 im Fach «Natur, Mensch, Gesellschaft» an der Unterstufe.
Silvia Lopez (50)
ist Primarlehrerin im Zyklus 1 in Bern-Bethlehem. Sie unterrichtet SEE Learning seit 2022 und wendet Elemente davon auch in ihrer Arbeit mit dem Elternrat an.
Mitgefühl für sich und andere
Auch für SiIvia Wiesmann, Präsidentin von SEE Learning Schweiz, ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers ein wichtiger Ansatz, wenn es darum geht, zu einem friedlichen Miteinander zu finden. Denn nur, wer sich selbst spürt und entsprechend für sich sorgt, kann auch sozial und systemisch sinnvoll handeln – auf diesen drei Ebenen funktioniert SEE Learning.
Während der im Westen lange Zeit dominante Evolutionismus davon ausging, dass es keine echte Nächstenliebe gebe, sondern nur Formen eines versteckten Egoismus, der letztlich der Arterhaltung diene, gibt es heute Theorien diverser Forschender, die besagen, dass Mitgefühl zur emotionalen Grundausstattung des Menschen gehöre.2 Auf diesem angeborenen Mitgefühl basiert die Ethik, die für SEE Learning massgebend ist.
Warum aber verlieren wir die Fähigkeit des Mitgefühls im Laufe des Heranwachsens, oder hat es nur noch in Bezug auf nahestehende Menschen bestand? «Ich stelle eine gewisse Werteunsicherheit fest, was auf Wandel hindeutet», meint Silvia Wiesmann, «doch das sind langsame Prozesse. Unsere Gesellschaft war lange leistungs- und wirtschaftsorientiert, noch immer glaubt man an endloses Wachstum, stellt die Rendite über alles. Da hat Mitgefühl keinen Platz, es wird den Kindern nicht wirklich vorgelebt.» Wenn aber Erwachsene etwas predigen, das sie selbst nicht leben, ist der Lerneffekt gleich null. «Kinder sind super Bullshit Detectors! Sie erkennen sofort, ob etwas authentisch ist oder nur leeres Gerede,» sagt SiIvia Wiesmann.
Friedensinitiative ohne religiösen Überbau
«Über Gefühle und Emotionen zu sprechen, ist längst nicht mehr ein Tabu, sondern essenziell für die Entwicklung der Kinder», hält Silvia Lopez, 50, Lehrerin in Bern-Bethlehem, fest, «aber auch für die Elternarbeit, die Schule und unsere Gesellschaft.» Wie ihre Kollegin Barbara Jüsy im benachbarten Bümpliz ist sie an ihrer Schule nicht nur eine aktive SEE-Learning-Anwenderin, sondern auch eine Multiplikatorin. Das heisst, sie bringt weiteren Lehrpersonen bei, wie SEE Learning mithilfe von eigens dafür entwickelten Lehrmitteln in den Unterricht integriert werden kann.
Dazu ist eine einjährige Ausbildung mit zertifiziertem Abschluss nötig. Der Verein SEE Learning bietet diese Ausbildung etwa alle zwei Jahre in Zusammenarbeit mit SEE Learning Deutschland und SEE Learning Emory University Atlanta an.
Aktuell sind neun zertifizierte Multiplikatorinnen in der Schweiz tätig. Die Lehrpersonen, die SEE Learning im Unterricht anwenden, werden auf gut 500 geschätzt, wobei das Verhältnis von Frauen und Männern laut Silvia Wiesmann etwa bei 80 zu 20 liegt. Mancherorts melden sich besorgte Eltern, die wissen wollen, ob SEE Learning einen religiösen Hintergrund habe. «Wir laden sie dann ein, in der Schule dabei zu sein, wenn mit SEE Learning unterrichtet wird», sagt Wiesmann, «so können sie sich davon überzeugen, dass es um menschliche Grundwerte und überfachliche Kompetenzen geht.» Dass der Dalai-Lama SEE Learning aktiv unterstütze, ändere daran nichts. Tatsächlich setzt sich der tibetische Friedensnobelpreisträger immer wieder für Friedensinitiativen ein. SEE Learning versteht sich als eine solche.
Ist es den unter steigenden Ansprüchen und ständigen Weiterbildungen ächzenden Lehrerinnen und Lehrern wirklich zu empfehlen, sich noch eine weitere Ausbildung aufzubürden? Dazu sagt Silvia Wiesmann: «Man kann erstmal die zwei Kapitel des SEE-Learning-Curriculums ausprobieren und online eine Einführung, Webinare oder auch ein Intensivseminar zur praktischen Anwendung im Unterricht besuchen. Die PHBern und St. Gallen bieten ebenfalls Weiterbildungen an. Anfänglich erscheinen die Anforderungen hoch, aber danach wirkt SEE Learning für die Lehrpersonen entlastend. Das sagen alle, die es ausprobiert haben.» Lehrerin Silvia Lopez bestätigt: «Ich beobachte, dass die Kinder besser interagieren. Sie verstehen, was es bedeutet, respektvoll zu sein. Sie legen Wert auf schöne Momente und merken, wenn sie Freude erleben. Sie lernen viele andere Gefühle kennen, nicht nur Traurigkeit oder Wut.» Vielleicht beginnt so der Frieden im Klassenzimmer.
1 MBSR: Mindfulness-Based Stress Reduction.
2 Vergleiche hierzu die einschlägigen Arbeiten von Paul Gilbert, Robert W. Roeser, Celene E. Domitrovich, Joseph A. Durlak, Tania Singer.
Programme SEE Learning – une nouvelle approche pour un climat pacifique en classe
Si la théorie évolutionniste soutient qu’il n’existe pas de réel altruisme mais uniquement des formes d’égoïsme caché servant à la préservation de l’espèce, de nouvelles études ont mis en avant que l’empathie fait partie du spectre des émotions dont sont intrinsèquement dotés les êtres humains. C’est sur ce postulat que se fonde l’éthique, élément central du SEE Learning (apprentissage social, émotionnel et éthique). Ce programme de formation, qui a vocation à être mis en application dans tous les pays, a été développé à l’Université Emory d’Atlanta, aux États Unis, puis lancé en 2019 à New Delhi. Outre l’empathie, les éléments centraux de ce programme sont l’attention, la résilience et l’autorégulation des émotions, ainsi que la pensée systémique et l’engagement global. Les contenus, qui reposent sur un concept-cadre didactique complet, sont proposés aux tranches d’âge 5-7 ans, 8-10 ans et 11 ans et plus. Chaque tranche d’âge dispose d’un cahier composé de sept chapitres et doit mener à bien un projet final. L’association SEE Learning Suisse propose en ligne des introductions au sujet, des webinaires et des séminaires intensifs. La PHBern organise également des formations continues sur le SEE Learning en présentiel.
Tina Uhlmann
Illustration: büro z
EDUCATION 2.24