Als Schulsozialarbeiterin hat Isabelle Kühni täglich mit Freundschaften zu tun, mal mit ihren Sonnen-, aber auch mit ihren Schattenseiten. Ein Gespräch über die Wichtigkeit des Dazugehörens, das Wachsen tiefer Verbundenheit und wie Stolpersteine auf dem Weg zu Freundschaften überwunden werden können.

Was bedeutet Freundschaft für Sie?
Mir gefällt das Bild, dass eng befreundete Menschen gleich schwingen. Sich also wortwörtlich auf der gleichen Wellenlänge bewegen. Meinen ganz guten Freundinnen fühle ich mich auf diese Weise verbunden und kann dadurch einerseits sehr viel Energie tanken, mich andererseits durch ihre direkten und ehrlichen Feedbacks aber auch immer wieder spiegeln, hinterfragen und weiterentwickeln. Solche tiefen und langjährigen Freundschaften sind für mich darum etwas sehr Essenzielles.
Haben Sie Freundschaften, die auf Ihre Schulzeit zurückgehen?
Ich habe tatsächlich enge Freundschaften, die sich bereits in meiner Schulzeit gebildet haben, jedoch in der späteren Schulzeit. Aber: Eine ehemalige Primarschulfreundin wohnt wie ich inzwischen wieder am Ort unserer Kindheit und hat gleichaltrige Kinder. Auch wenn wir nicht enge Freundinnen sind, spüren wir beide deutlich, dass unser Band eine ganz andere Qualität hat, dadurch, dass die Basis seit Kindesbeinen besteht. Wir wissen, wer die andere ist, müssen über vieles gar nicht reden. Stattdessen konnten wir direkt an unsere frühere Verbindung anknüpfen und den Faden trotz Kontaktpause nahtlos in die Gegenwart weiterspinnen.
Warum sind Freundschaften für unsere Selbstakzeptanz und mentale Gesundheit so wichtig?
In Freundschaften fühlen wir uns eng verbunden, verstanden, wahrgenommen und akzeptiert. Diese Selbstbestätigung ist wichtig für unsere persönliche Entwicklung und auch für das Bild, das wir von uns selbst haben. Im Austausch und Spiegeln mit anderen kann dieses überhaupt erst entstehen und später immer wieder geschärft werden.
Hinzu kommt, dass wir soziale Wesen und damit schlicht aufeinander angewiesen sind. Was die Sache nicht unbedingt einfacher macht. Freundschaften sind nicht beständig und fix, sondern vielmehr fragil und lebendig, müssen gepflegt und unterhalten werden. Im dynamischen Schulumfeld zeigt sich das besonders ausgeprägt. Alle wollen Anschluss finden, irgendwo dazugehören. So entstehen teilweise Zweckkoalitionen, deren einziges Ziel ist, nicht allein sein zu müssen. Was wiederum zu ungünstigen Klassendynamiken führen kann. Dass Freundschaften gepflegt werden müssen, zeigt sich auch daran, dass sie in meiner Arbeit als Schulsozialarbeiterin eines der Hauptthemen sind.
Welchen Einfluss haben sie auf unsere Konfliktfähigkeit?
Sich im sozialen Umfeld zurechtzufinden, ihren Platz im Gefüge zu finden, müssen Kinder ab dem ersten Kindergartentag lernen. Das Entwickeln der dazugehörigen Strategien geht nicht immer sanft vonstatten, denn: Wo sich Freundschaften und Zweckkoalitionen bilden, werden zwangsläufig andere ausgeschlossen. In solchen Situationen wählen einige zur Not den Machtkampf mit Muskelkraft, andere reagieren mit verbalen und nonverbalen Giftpfeilen, wieder andere ziehen sich zurück. Am Ende geht es bei allen darum, dass sie nicht allein sein wollen. Das führt automatisch zu Auseinandersetzungen und Konflikten – und gleichzeitig zu einem spannenden und wertvollen Lernfeld.
Wie teile ich meine Bedürfnisse anständig mit, welches Verhalten hilft mir dabei, welches nicht: An diesen Fragen können die Kinder und ihre Konfliktfähigkeit wachsen. Wichtig ist, dass wir uns immer wieder bewusst machen, wie viel Energie die Schülerinnen und Schüler dafür brauchen, und sie in diesem Prozess entsprechend unterstützen und begleiten.
Beeinflussen Freundschaften auch die schulische Entwicklung?
Auf jeden Fall. Nicht im Sinne von «wer einen Freund/eine Freundin hat, erbringt bessere Leistung». Aber hat es zum Beispiel in der grossen Pause einen verletzenden Streit gegeben, wird kaum ein Kind einfach so mit dem Unterricht weitermachen können oder wirklich aufnahmefähig sein. Die Geschichte muss gelöst werden. Kriegen Lehrpersonen einen solchen Pausenzoff mit, sind sie gut beraten, den Faden zu Beginn der nächsten Lektion kurz aufzunehmen und der Konfliktauflösung Raum zu geben. Grundsätzlich lässt sich festhalten: Je sicherer sich die Kinder im Klassengefüge fühlen, desto besser können sie sich auf den Unterrichtsstoff und das Lernen konzentrieren.
Wie formen sich Kinderfreundschaften?
Das hängt von der Art der Freundschaft ab. Es gibt jene, die aus Sympathie entstehen oder gleichen Interessen, Hobbys und Themen, die sie gerade beschäftigen. Dann gibt es die Zweckkoalitionen, die ein anderes Ziel oder eben einen anderen Zweck haben. Das können etwa Kinder sein, die den Schulweg teilen. Oder Gruppen, die sich zusammentun, weil sie nicht zu den Alphatieren oder anderen gerade als wichtig und prägend empfundenen Gruppen gehören. Bei jüngeren Kindern gestaltet sich dieser Prozess noch sehr fluid, es ist ein Kennenlernen und Ausprobieren der sozialen Regeln. Sie sollen herausfinden mit welchen Personen und in welchem Umfeld sie sich wohlfühlen, wie sie dazu stehen und die Beziehungen aufrechterhalten können. Später ergeben sich daraus kleinere Einzelgruppen, in der Oberstufe dann sind soziale Gefüge erfahrungsgemäss gefestigter.

Können Erwachsene darauf Einfluss nehmen und wenn ja: Sollen sie?
Auch das ist situationsbedingt. Die Klassendynamik etwa muss eine Lehrperson immer im Fokus haben. Insbesondere nach Klassenwechseln und wenn ab der 5. Klasse der Leistungsdruck zunimmt. Grundsätzlich ist es toll, wenn die Kinder und Jugendlichen ihre Konflikte selbst lösen können. Das stärkt ihre Selbstwirksamkeit und ihr Selbstvertrauen. Bei einem Ungleichgewicht der Kräfte aber oder wenn die Belastungen für Einzelne zu gross werden, müssen Erwachsene eingreifen. Hier kann die Schulsozialarbeit einen wichtigen Beitrag leisten: Einerseits habe ich die zeitlichen Ressourcen fürs Auflösen von Streitigkeiten innerhalb von kleinen Gruppen, andererseits bin ich auch Ansprechperson für schwierige Klassendynamiken und kann in solchen Fällen mit den Lehrpersonen erarbeiten, wie weiter vorgegangen werden könnte. Die Schulsozialarbeit steht auch für Einzelgespräche zur Verfügung. Darin kann etwa im geschützten Rahmen um Rat gesucht werden, wenn sich (un)erwartet Freundschaften auflösen oder mit anderen kollidieren und dadurch ein Gefühl von Enttäuschung, Wut oder Versagen auslösen, und besprochen werden, wie gelingend damit umgegangen werden kann.
Bei älteren Kindern möchte ich unbedingt auch die Eltern ermutigen, allfällige Ungleichgewichte in Freundschaften anzusprechen. Teilen Sie Ihrem Kind Ihre Beobachtungen mit, reden Sie offen über Beziehungsgestaltung, und schauen Sie, was beim Kind dadurch in Gang gesetzt wird. Meine Erfahrung ist, dass Jugendliche solche Diskussionen schätzen.
Vielleicht haben sie sogar selbst schon gemerkt, dass ihnen ein Freund oder eine Freundin nicht guttut, aber noch nicht die richtigen Worte dafür gefunden. Da kann ein Input der Bezugspersonen sehr hilfreich sein. Von elterlich arrangierten Freundschaften hingegen rate ich ab. Das kann man nicht forcieren oder erzwingen.
Welchen Stellenwert haben Freundschaften unter Lehrpersonen?
Wir sind auch beruflich soziale Wesen. Das zeigt sich am ehesten bei Antritt einer neuen Stelle. Natürlich spielt hier die fachliche und inhaltliche Vorbereitung und Zusammenarbeit eine grosse Rolle. Die Integration ins neue Team fordert aber mindestens so viel Energie. Erst wenn ich weiss, wer wie funktioniert, auf wen ich mich verlassen kann, vor wem ich mich in Acht nehmen muss, erst dann entsteht ein Gefühl von Sicherheit, und um genau diese Sicherheit geht es letztendlich. Zusammenarbeit gelingt dann am besten, wenn sich im sozialen Kontext alle sicher fühlen. Schafft ein Team das, ist es zu vielem fähig. Wichtig ist ein gutes Auskommen im Lehrpersonenteam aber auch deshalb, weil die Kinder eine schlechte Teamstimmung erfahrungsgemäss sofort wahrnehmen.
Der Erziehungsansatz der «Neuen Autorität», der in den vergangenen Jahren gefördert und zu dem mehrere Weiterbildungen angeboten wurden, baut auf dem beschriebenen konstruktiven und engen Miteinander der Lehrpersonen auf. Passiert etwas, treten sie als Kollektiv vor die Schülerinnen und Schüler. Dieses geschlossene Auftreten hat eine ganz andere Kraft, als wenn die Lehrpersonen je allein vor ihre Klassen treten.
Was unterscheidet Freundschaften unter Berufskolleg/innen von anderen Freundschaften?
Das Ziel ist ein anderes. Unter Berufskolleg/innen geht es weniger um Persönliches, sondern primär darum, fachliche Synergien zu bilden und zu nutzen, gemeinsam weiterzukommen, erfolgreich zu sein und Ziele zu erreichen. Dies ist eine gelingende berufliche Beziehung und nicht eine eigentliche Freundschaft. Privat hingegen sind Freundschaften im besten Fall von einer tiefen Verbundenheit geprägt und darauf ausgelegt, einander Halt zu geben, sich gegenseitig ein sicherer Hafen zu sein. Wichtig sind beide Beziehungsarten.
Welchen Rat für Freundschaft würden Sie Ihrem jüngeren Ich mit auf den Weg geben?
Wir hatten in der Primarschule keine einfache Klassensituation, worunter ich gelitten habe. Meinem jüngeren Ich würde ich darum gern sagen: «Geh zur Schulsozialarbeit. Du kannst nicht alle Probleme allein lösen, du musst es auch gar nicht!» Ein solches Gespräch würde mir zeigen, welche Verantwortung ich trage und von welchen Schwierigkeiten ich mich distanzieren darf. Schulen haben diesbezüglich viel in der Hand. Einerseits ist es wichtig, dass die Schulsozialarbeit ein von der Schule unabhängiges und niederschwellig zugängliches Angebot ist, damit der Vertrauensrahmen gewahrt bleibt. Damit die Schulsozialarbeit wirkungsvoll unterstützen kann, ist es andererseits zentral, dass sie so oft wie möglich vor Ort präsent ist. Daran zeigt sich auch die Wchtigkeit von ausreichenden Stellenprozenten. Diese Punkte beeinflussen wesentlich, wie die Schulsozialarbeit wahrgenommen wird. Gelingt es, zu vermitteln: «Hey, es ist nichts seltsam mit dir, wenn du dahin gehst», fällt es den Kindern viel leichter, vom Angebot Gebrauch zu machen.
Isabelle Kühni (39)
ist Sozialpädagogin HF mit einem CAS in Schulsozialarbeit. Bei der Gemeinde Frutigen ist sie seit Sommer 2022 angestellt und in einem 40%-Pensum für die Schulen in Adelboden zuständig.
Karin Hänzi
Fotos: Pia Neuenschwander
EDUCATION 1.25