Kenntnisse in den Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen sind zentral für ein selbstbestimmtes Leben. Und doch tun sich viele Erwachsene damit schwer: Allein im Kanton Bern haben rund 70 000 Menschen Mühe beim Lesen oder Schreiben einfacher Texte. Christoph Düby, Leiter der Abteilung Betriebliche Bildung im Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) des Kantons Bern, ist einer von ihnen. Er hat Legasthenie.
Kannst du uns erzählen, wann du das erste Mal gemerkt hast, dass bei dir etwas anders ist, und wann du von deiner LRS (Lese-RechtschreibSchwäche), früher als Legasthenie benannt, erfahren hast?
Christoph Düby Als Kind las ich – verglichen mit Mitschülerinnen und Mitschülern – langsamer und machte viele Rechtschreibfehler. Bei Diktaten und anderen Schreibübungen hatte ich regelmässig die Note 1. Direkte Unterstützungsmassnahmen gab es vor 50 Jahren kaum, und LRS war damals in der Primarschule kein Thema.
Im Jahr 2014 liessen meine Frau und ich nach einem langen Leidensweg eine unserer Töchter abklären. Im Auswertungsgespräch war mir nicht klar, ob wir über unsere Tochter oder über mich sprachen. Das veranlasste mich, mit 48 Jahren ebenso eine Abklärung zu initiieren. Heute weiss ich, dass LRS im Zusammenspiel mit ADHS Einfluss darauf nimmt, wie ich funktioniere. Es war befreiend, endlich einen Namen für meine Herausforderungen zu haben.
Kannst du beschreiben, in welchen Situationen sich deine LRS zeigt und wie du mit diesen Situationen umgehst?
Das zeigte sich bereits früh in meiner Schulzeit. Mir wurde weniger zugetraut als anderen, oder ich wurde von Lehrpersonen häufig blossgestellt. Aber davon liess ich mich nicht entmutigen. Im Gegenteil: Das weckte meinen Willen, es trotzdem zu schaffen!
Was ich mir vornahm, erreichte ich. Aber der Preis dafür war sehr hoch! Ich musste für das gleiche Resultat viel mehr Aufwand betreiben als andere. Meine ganze Energie investierte ich in meine Ausbildungen – mit allen negativen Auswirkungen auf mein Sozialleben und mein Umfeld.
Als Herausforderung im Berufsalltag erlebe ich, dass beim Bearbeiten schriftlicher Informationen viel Energie und Zeit verbraucht werden. Je höher die Arbeitslast und der Zeitdruck sind, desto weniger Ressourcen habe ich für die Rechtschreibung und dafür, Texte mehrmals durchzulesen und zu redigieren. Das ist anstrengend und herausfordernd zugleich. Zusätzlich spielt das ADHS hinein. Konzentriert und fokussiert aus einer Fülle an Informationen Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen oder Aufgaben zu priorisieren, erfordert meinerseits viel Energie.
Privat lese ich wenig – aber ich höre mir Buchzusammenfassungen über Apps an. Ich bin froh um Personen, die mir Zusammenfassungen erstellen. Letzteres erledigt immer öfter die KI für mich. Ich habe ein grosses Unterstützungsnetzwerk und bin dafür sehr dankbar und weiss es zu schätzen!
Du gehst offen mit deiner Schwierigkeit beim Lesen und Schreiben um. Wie reagierte dein Umfeld darauf?
Offene Kommunikation schafft zum einen Verständnis, wieso ich so funktioniere. Zum anderen erlaubt sie aber auch, verschiedene Stärken von Menschen gewinnbringend und ergänzend zu nutzen. Die Kombination verschiedener Fähigkeiten und Kompetenzen wirkt sich positiv auf das Endresultat aus. Das ist ein Gewinn und daher als Chance zu sehen! Vereinzelt gibt es Personen, die mit diesen Tatsachen und meiner Offenheit nicht klarkommen, überfordert sind oder sogar ablehnend reagieren.
Wie waren die Reaktionen in deinem Arbeitsumfeld bei der Offenlegung deiner Beeinträchtigung? Hattest du teilweise das Gefühl, dass du dich als ABB-Leiter mit LRS extra behaupten musstest?
Meine LRS habe ich von Anfang an offengelegt. Bis ich unbefangen über meine ADHS-Diagnose reden konnte, brauchte ich fünf Jahre, da die Stigmatisierung im Vergleich zu LRS viel grösser ist. Durch meine Offenheit verstehen heute viele, woher meine Energie kommt und wieso aus mir so viele Ideen sprudeln (lacht).
Die Reaktionen im Arbeitsumfeld waren grösstenteils positiv. Das überraschte mich am Anfang. Es fühlte sich gleichzeitig befreiend an und motivierte mich, offen und transparent zu kommunizieren. Einzelne fragten kritisch: «Was leistet er eigentlich?» Diese Menschen musste ich mit meinem Einsatz überzeugen und ihnen beweisen, dass ich meine Leistung bringe, ja sogar Überdurchschnittliches leisten kann.
Ich bin beim Lesen und Schreiben langsamer als andere. Übers Ganze gesehen würde ich jedoch behaupten, in der Tendenz teilweise sogar schneller zu sein. Den Mehraufwand, den ich fürs Lesen und Schreiben benötige, kompensiere ich mit meinem schnellen, vernetzten Denken und meinem Hyperfokus.
Was oder wer motivierte dich, dich trotz LRS mit deiner Lese- und Schreibkompetenz auseinanderzusetzen?
Wenn ich mich belächelt oder abschätzig behandelt fühlte, stachelte es mich an, einen zusätzlichen Effort zu leisten und das Gegenteil zu beweisen. Dies trotz der vielen negativen Auswirkungen, die der erhöhte Zeit- und Energieaufwand in Bezug auf mein Sozialleben mit sich bringt.
Heute motivieren mich Menschen, die Verständnis und Wertschätzung für Eigenheiten von Mitmenschen zeigen und die sehen, wie ein Ganzes gemeinschaftlich entsteht. Dinge, die mir sinnvoll erscheinen, erleichtern es mir, mehr Energie und Zeit aufzuwenden. Ich habe für mich einen lösungsorientierten und pragmatischen Zugang zum Lernen gefunden. Es gibt aber auch Dinge, die funktionieren einfach nicht. So wäre zum Beispiel eine Clean-Desk-Strategie eine fast unüberwindbare Hürde für mich.1
Hast du einen Grundkompetenzenkurs besucht?
Vor über 30 Jahren besuchte ich einen «Schneller lesen»-Kurs. Das ist so lange her, ich kann mich nicht mehr genau erinnern (lacht).
Meine Gehirnstrukturen kann ich nicht verändern. In diesem Kurs lernte ich, besondere Strategien anzuwenden, und erhielt Instrumente, um mit meiner Situation umzugehen. In Gesprächen mit anderen Betroffenen lernte ich zudem, über meine Beeinträchtigung zu reden – zuerst im kleinen, mit der Zeit auch im erweiterten Kreis.
Worin siehst du deine Begabungen oder Stärken?
Ich liebe es, mit Menschen unterwegs zu sein, und habe vielfältige Interessen. Mich faszinieren u. a. neue technische Möglichkeiten. Als Berufsausgleich betätige ich mich zudem gerne handwerklich und finde Erholung in der Natur.
Was gibt dir Mut, weiterzulernen?
Mein persönliches Umfeld und meine Familie haben vieles erduldet. Gleichzeitig halfen sie mir, vieles zu tragen. Die Diagnose bestätigte, dass ich nicht nur «so tue», sondern dass es eine Ursache für meine Herausforderungen gibt. Dies führte zu einem besseren Verständnis in meinem nahen Umfeld. Meine Frau und meine Familie sind mein Kraftort.
Was möchtest du anderen betroffenen Personen mitteilen?
Ich wünsche mir, dass Menschen häufiger den Mut finden, persönliche Herausforderungen anzusprechen und dadurch vermeintliche Schwächen in Stärken verwandeln. Man darf nicht enttäuscht sein, wenn einzelne Personen negativ reagieren. Solche Reaktionen gehören zur Realität, machen aber einen kleinen Anteil aus. Offen über die eigene Situation und die Herausforderungen zu sprechen, ermöglicht den grösseren Gewinn, als wenn dies verheimlicht wird.
Möchtest du den Lernenden des Kantons Bern als Leiter der Abteilung Betriebliche Bildung etwas mit auf den Weg geben?
Fokussiert euch auf das Positive und verweilt nicht im Negativen! Wir alle bringen Einzigartigkeiten mit, die sich zu fördern lohnen! Entdeckt die Fähigkeiten in euch, und entwickelt eure positiven Seiten weiter. Es lohnt sich, in persönliche Beziehungen zu investieren. Sie schaffen Verständnis und geben Mut fürs Leben.
Was möchtest du Personen sagen, die noch nie etwas über Beeinträchtigungen gehört haben?
Ich wünsche mir, nicht als «speziell», sondern als vollwertiger Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, der – wie alle anderen – seinen Anteil am Ganzen beiträgt. Schwächen sollen nicht verleugnet werden, sondern es gilt, diese zu akzeptieren und sich dann rasch auf die Stärken zu fokussieren. Bleibt neugierig, probiert und lernt Neues – ein Leben lang!
1 Die Clean-Desk-Strategie bezeichnet eine Arbeitsweise, bei der Arbeitsplätze am Ende des Tages oder nach jeder Nutzung aufgeräumt und frei von persönlichen Gegenständen, Dokumenten oder sensiblen Informationen hinterlassen werden, um die Arbeitsumgebung effizient zu gestalten.
Christoph Düby (59)

ist Leiter der Abteilung Betriebliche Bildung im Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Bern. Seit 2012 arbeitet er dort, zuvor war er Schulleiter an den kantonalen Brückenangeboten und Leiter einer sozialen Ausbildungs institution. Christoph Düby wohnt mit seiner Familie in Burgdorf.
Informationen und Bildungsangebote für Betroffene
- Hotline für Betroffene und kostenlose Beratung zu den Angeboten: 0800 474 747
- Website: www.einfach-besser.ch
- Kurssuche für Privatpersonen (mit Vorlesefunktion): www.besser-jetzt.ch/kurssuche.cfm
- Informationen für Betriebe: www.be.ch/kurse-in-betrieben
Fabienne Müller
Foto: Florian Spring
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