Essen sei eine Kulturtechnik, beschreibt Prof. Christine Brombach vom Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation der ZHAW unsere tägliche Nahrungsaufnahme. Der Umgang mit dem Essen und dessen Wertschätzung haben sich in den letzten Jahrzehnten jedoch enorm verändert. Ein perspektivenreiches Interview über das Essverhalten in unserer schnelllebigen Zeit.
Frau Prof. Brombach, was denken Sie sich grundsätzlich, wenn Sie das Essverhalten Ihrer Mitmenschen studieren?
Ernährungsverhalten ist eine der faszinierendsten und vielschichtigsten Verhaltensweisen, die wir als Menschen entwickelt haben. Alle Menschen haben zu Beginn des Lebens gemeinsam, dass sie nur ein einziges Lebens mittel essen: Muttermilch bzw. Säuglingsersatznahrung. Und schauen wir auf das, was Menschen im Erwachsenenalter wann, wo, wie und in welchem Kontext essen und trinken, so ist dies eine immense kulturelle Vielfalt. Auch dass nicht alle Menschen von Tellern und mit Besteck essen, verdeutlicht, wie enorm vielfältig das Essen ist und dass auch das Essverhalten vor allem sozial und kulturell beeinflusst ist.
Gibt es im Essverhalten Generationenunterschiede? Wie ist das Essverhalten von Kindern und Jugendlichen im Gegensatz zu dem ihrer Eltern?
Ja, es gibt vielerlei Unterschiede in den jeweiligen Altersgruppen. Zum einen sind es die physiologisch begründeten verschiedenen Nährwertbedarfe: Im Säuglingsalter und dann auch nochmals in der Adoleszenz ist der Energie- und Nährwertbedarf bezogen auf ein Kilogramm Körpergewicht so hoch wie sonst in keinem Lebensalter. Das ist hauptsächlich durch das starke Wachstum und den Aufbau der Körpermasse bedingt.
Darüber hinaus gibt es kulturell bedingte Unterschiede in den einzelnen Lebensphasen und über die Generationen hinweg. Denn essen können wir zu Beginn unseres Lebens noch nicht, wir müssen es erlernen. Wir haben keine Instinkte, die uns anleiten würden, wie und was wir essen sollen. Es ist die Familie, es sind die Bezugspersonen, die dem Kind zu Beginn des Lebens die überlebenswichtige Kulturtechnik Essen beibringen. Somit beginnt bereits ganz früh im Leben die sogenannte «Ernährungssozialisation». Die Eltern sind ebenfalls in einem bestimmten Umfeld sozialisiert worden und vermitteln ihre eigenen Esserfahrungen, Vorlieben und Praktiken ihren Kindern. Kinder lernen durch Rollenbilder. Was machen die Eltern? Wie verhalten sich diese am Tisch? Wie wird mit Essen umgegangen? Das geschieht alles implizit, weil Kinder hervorragende Beobachter sind und mehr durch Vorleben als durch Worte lernen. Auch Geschmack, Vorlieben sowie Wert- und Normvorstellungen werden in der frühen Kindheit von der Essumgebung geprägt.
Generationenunterschiede gibt es dahingehend, dass jede Generation in einer anderen Essumgebung gross geworden ist. Das Angebot, die Verfügbarkeit und die Zubereitung von Lebensmitteln haben sich in vielfältiger Weise enorm verändert. Menschen, die vor 80 Jahren geboren wurden, wurden vom kriegsbedingt eingeschränkten Lebensmittelangebot geprägt. In ihrer Jugend gab es weder Fertiggerichte im Detailhandel noch eine dauernde Verfügbarkeit von Lebensmitteln, noch gab es in den Privathaushalten hierzulande flächendeckend eigene Kühlschränke, Mikrowellen oder jeden Tag Fleisch. Zubereitet und gegessen wurde vorwiegend, was es saisonal und regional gab. Essen war im Vergleich zu heute teuer und verschlang einen Grossteil des verfügbaren Einkommens. Dementsprechend war Essen etwas Wertvolles, Verschwendung war undenkbar. Heute dagegen geben wir im Schnitt zwischen acht und zwölf Prozent des verfügbaren Einkommens für Lebensmittel aus. Wir bestellen online Lebensmittel und bezahlen diese online, jederzeit ist ein immenses, unüberschaubares Angebot an Essen rund um die Uhr bequem verfügbar. Heute wird Kindern schon früh kulturell vermittelt, Essen sei etwas Selbstverständliches. Ebenso lernen Kinder, dass es in unserer Kultur jederzeit und überall Essen zu kaufen gibt. Damit haben sich zum Beispiel der Umgang mit dem Essen und dessen Wertschätzung in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Die Auswahl an Lebensmitteln ist unüberschaubar geworden. Essen aus der Hand auf der Strasse war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch verpönt, heute ist es normal, überall zu essen.
Wie kommt das Überangebot in den westlichen Industrieländern zustande – und was bedeutet es für unsere Esskultur und die Gesundheit?
Die Schweiz ist ein hoch technisiertes, sehr reiches Land. Dadurch können es sich die Menschen leisten, viele Lebensmittel zu importieren und aus der angebotenen Fülle zu wählen. Das Lebensmittelangebot ist das Ergebnis von sehr komplexen, sehr dynamischen Prozessen. Hinzu kommt, dass die Schweiz ein grosser Player im globalen Lebensmittelhandel ist: 60 Prozent des weltweiten Getreides, 55 Prozent des globalen Kaffees, 45 Prozent des globalen Zuckers und ca. 35 Prozent des globalen Kakaos werden in der Schweiz gehandelt.
Unsere westliche Esskultur ist geprägt von ständig verfügbaren, teilweise hoch verarbeiteten Produkten, die eine hohe Nahrungsdichte, also viele Kilokalorien pro 100 g Lebensmittel, enthalten. Mit der Industrialisierung ist unser Leben viel einfacher, bequemer geworden, wir müssen heute körperlich nicht mehr so hart arbeiten, die Mobilitätsangebote sind jederzeit verfügbar. Das bedeutet, dass auch der Energiebedarf abgenommen hat. Daraus entwickelt sich ein Ungleichgewicht zwischen der Energie, die wir zu uns nehmen, und derjenigen, die wir benötigen. Essen ist verlockend preiswert, jederzeit schnell erreichbar. Das führt vor allem dazu, dass immer mehr Menschen übergewichtig oder adipös und in der Folge auch krank werden. Es sind vor allem diese sogenannten nicht übertragbaren, chronischen Erkrankungen, wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck oder verschiedene Krebserkrankungen, die mit unserem westlichen Ernährungsstil zusammenhängen. Das individuelle Leid und die gesellschaftlichen Kosten, die daraus entstehen sind hoch.
Wodurch eint uns Essen und Trinken, wie trennt es uns?
Georg Simmel, ein Soziologe, hat einmal gesagt: Das Gemeinsamste, was Menschen tun, ist, dass sie essen und trinken müssen. Das also eint uns, ebenso wie, dass es in jeder Kultur soziale Regeln gibt, die das Essverhalten prägen. Diese sozialen Regeln sind aber inhaltlich unterschiedlich. Essen ist weitgehend auch durch Werte, also grundlegende Orientierungen, geprägt: Was ist richtig, was ist falsch, was moralisch, unmoralisch? Und hier kann Essen auch etwas Trennendes sein, wenn Menschen unterschiedliche Werte haben, die die Auswahl bestimmen, oder auch, was den Umgang mit Lebensmitteln anbelangt. Deutlich wird das an religiösen Vorstellungen, was zum Beispiel «rein» oder «unrein» ist, was gläubige Menschen essen sollten und was nicht. Welche Fastenzeiten gelten oder auch wie Tiere zu schlachten sind. Das sind Vorschriften, die religiös bestimmt sind. Menschen, die hier sehr unterschiedliche Werte oder Religionszugehörigkeiten haben, werden auch nicht Speisen miteinander essen, die in ihrer jeweiligen Religion verboten sind.
Wie kann die Schule das Essverhalten beeinflussen, bzw. welche Rolle kann die Schule bei der Prävention von ungesundem Essverhalten und Essstörungen spielen?
Die Schule ist ein immens wichtiger Lern- und Lebensraum für Kinder und Jugendliche. In der Schule bekommen sie die Kenntnisse vermittelt, die die Grundlagen legen, dass sie später ein selbstbestimmtes Leben führen können. In der Schule wird ein Grossteil der Tageszeit verbracht. Wenn die Schulen als Tagesschulen konzipiert sind, essen die Kinder und Jugendlichen auch dort. Damit wird das Essen als ganzheitliche Lebenswelt von den Schülerinnen und Schülern erlebt, als ein Lernort im Unterricht und ganz praktisch in der Schulkantine. Die Schulverpflegung spielt damit eine entscheidende Rolle. Es kann durch das Angebot von warmem, ausgewogenem, abwechslungsreichem Essen zum Beispiel auf die Geschmacksentwicklung Einfluss genommen werden. Wichtig ist es auch, in der Schule über die Entstehung von Essstörungen oder auch über den Umgang mit vermeintlichen Körperidealen aufzuklären. Im Hauswirtschaftsunterricht kann dafür sensibilisiert werden, welchen Einfluss das Essen auf das Klima hat und wie mit Lebensmitteln sinnvoll umgegangen wird, um zum Beispiel Food Waste zu vermeiden. Der Hauswirtschaftsunterricht und hier besonders der Kochunterricht spielt eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von praktischen Kompetenzen. Hier kann erlernt und erfahren werden, wie ein genussvolles, gesundes und nachhaltiges Essverhalten aussieht. Daher ist dieses Unterrichtsfach so wichtig, weil in diesem Schulfach zentrale Lebenskompetenzen erlernt werden können.
Wichtig ist, dass wir in der Schule alle Kinder und Jugendlichen erreichen und ihnen dort auch vorleben können, dass genussvolles, zukunftsfähiges und nachhaltiges Essen nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Zukunft unseres Planeten eine entscheidende Rolle spielt. Dazu müssen in der Schule die entsprechenden Strukturen geschaffen werden und auch die Lehrkräfte sich in ihrer Rolle als Vorbilder sehen.

Prof. Dr. Christine Brombach
ist seit 2009 am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil tätig. Sie studierte in Giessen und Knoxville Ernährungs- und Haushaltswissenschaften. Nach dem Diplom in Giessen erwarb sie sich einen Master of Science in Nutrition mit dem Schwerpunkt Gerontologie in Manhattan, KS, USA. Sie promovierte an der Universität Giessen zum Thema «Ernährungsverhalten von Frauen über 65 Jahren». Für vier Jahre leitete sie als Projektkoordinatorin die Nationale Verzehrsstudie II am Max-Rubner-Institut in Karlsruhe.
Christoph Schelhammer
Foto: zVg
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