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Mehr Bewegung wagen

Bewegung sollte nicht nur als Instrument betrachtet oder darauf reduziert werden, die Leistungen zu verbessern, meint Andrea Nadenbousch, Dozentin für Bewegung und Sport im IPS der PHBern. Bewegung sollte vielmehr ein Teil des Schulalltags sein, genauso wichtig wie das Kognitive.

Frau Nadenbousch, wie sieht es bei Ihnen als Bewegungsexpertin persönlich mit Bewegung im Alltag aus?
Bewegung ist für mich im Arbeitsalltag ein wichtiger Ausgleich zum Sitzen vor dem Laptop, auch wenn ich beruflich während des Semesters regelmässig in der Halle stehe und mich dabei auch selbst mitbewege. Deshalb treibe ich zum Beispiel über Mittag Sport, nutze z. B. das Unisport-Angebot oder gehe in den Wald. Auch in meiner Freizeit spielt Bewegung eine zentrale Rolle: Ich bin sehr oft draussen in der Natur, z. B. in den Bergen oder in der Aare. Bewegung ist also sowohl beruflich als auch privat für mich das Schönste.

Was bedeutet «Lernen mit allen Sinnen» im schulischen Alltag?
«Lernen mit allen Sinnen» ist ein altes pädagogisches Prinzip, bei dem es darum geht, Lehrinhalte tiefer zu verarbeiten und besser abzuspeichern, indem man sie über verschiedene Sinne aufnimmt. Im Schulalltag geschieht dies oft über den visuellen Sinn, also über das Auge, oder den akustischen Sinn, das Gehör. Im Sitzen am Pult gelingt dies gut sowohl mit Heft und Buch als auch mit digitalen Medien.

Sobald aber taktile oder kinästhetische Ebenen ins Spiel kommen sollen, wird Bewegung zentral. Gemeint ist nicht Sport im klassischen Sinn, sondern aktives, entdeckendes Lernen: einen Gegenstand untersuchen, einen Lernort besuchen, ein Experiment durchführen. Greifen, spüren, riechen schafft intensive Erfahrungen, die motivieren und Wissen vertiefen.Das ist ganzheitliches Lernen, wenn körperliche und mentale Prozesse einbezogen werden.

Können Sie Beispiele nennen, wie Bewegung Lernprozesse unterstützt?
Nicht nur die rein kognitiven Vorgänge beeinflussen den Lernprozess. Körperliche Aktivität fördert kurzfristig die Durchblutung, aktiviert Hirnareale und setzt Botenstoffe frei, die Denken und Lernen unterstützen. Auch die exekutiven Funktionen profitieren, weil kognitive und motorische Prozesse ineinandergreifen. Inwiefern Bewegung unterstützend wirkt, hängt von deren Ausgestaltung ab. Grundsätzlich kann man sagen, dass nach einer Bewegungssequenz die Konzentration verbessert ist und sich längerfristig positive Auswirkungen auf die exekutiven Funktionen einstellen. Es gibt aber viele weitere Einflüsse innerhalb und ausserhalb des Unterrichts, die auf den Verlauf und das Gelingen eines Lernprozesses einwirken.

Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass Bewegung ein fester Bestandteil des Schulalltags ist?
Weil Bewegung zum ganzheitlichen Lernen gehört und deshalb Teil der Schulkultur sein sollte. Bewegung fördert körperliche und mentale Gesundheit, unterstützt Konzentration und exekutive Funktionen. Sie kann Motivation, Selbstwert und Wohlbefinden erhöhen – Dinge also, die entscheidend für das Lernen sind. Auch das Zusammenleben in der Schule profitiert, denn Bewegungsangebote können soziale Partizipation fördern, Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Lernenden, aber auch unter den Kindern und Jugendlichen stärken. Der Mehrwert liegt darin, dass Bewegung auf zahlreichen Ebenen wirkt – zwar nicht automatisch mit besseren Noten einhergeht, aber mit einer lebendigeren und gesünderen Schulkultur.

Wo sehen Sie die grössten Chancen, aber auch Grenzen von bewegtem Lernen?
Ich sehe Bewegung als ein zentrales Puzzleteil, das Lernen, Zusammenleben, Gesundheit und Motivation fördert und so zur Gestaltung einer lernförderlichen Schulkultur beiträgt. Grenzen sehe ich dort, wo man schnelle Rezepte erwartet. Eine Bewegungspause allein verbessert nicht automatisch die Schulleistungen. Was funktioniert, hängt stark von den Lernenden, den Präferenzen der Lehrpersonen und den Rahmenbedingungen des Standorts ab – zum Beispiel haben die räumlichen Gegebenheiten oder die finanziellen Ressourcen einen Einfluss auf die Umsetzbarkeit von Bewegungsangeboten. Bewegungsförderung kann also nie überall gleich und nie nach Schema F umgesetzt werden.

Was macht eine gute Bewegungspause aus?
Entscheidend ist das Ziel, das verfolgt wird: Soll sie primär die Gesundheit fördern, die lange Sitzzeit unterbrechen, die soziale Partizipation stärken oder die Lernprozesse unterstützen? Lehrpersonen sollten sich bewusst machen, welchen Bereich sie ansprechen möchten – physisch, sozial, affektiv oder kognitiv. Dann lassen sich passende Ideen und Materialien auswählen. Grundsätzlich können Bewegungspausen mehrere Ziele verbinden, aber nicht jede Bewegungspause kann alle Ziele gleichermassen erfüllen..

Wie lässt sich Bewegung in den regulären Unterricht integrieren, ohne dass der Lernstoff zu kurz kommt?
Zuerst sollte man sich fragen: Bedeutet mehr Zeit automatisch mehr Lernen? Ein Kind, das still am Pult sitzt, lernt nicht zwingend mehr als eines, das sich zwischendurch bewegt. Bewegungspausen sind kein Zeitverlust, wenn sie zum passenden Zeitpunkt im Unterricht und mit einer bewussten Zielsetzung eingesetzt werden.
Man unterscheidet zwischen Lernen in Bewegung, etwa ein Spaziergang mit anschliessender Diskussion, wobei die Bewegung keinen direkten Bezug zum Lerninhalt aufweist, und Lernen durch Bewegung, bei dem Bewegung direkt mit dem Lernstoff verknüpft ist, etwa Sätze im Sprachunterricht szenisch darstellen  oder den Zahlenraum am Boden begehen. So wird klar: Lernen und Bewegung schliessen sich nicht aus, sondern können sich sinnvoll ergänzen und auch gleichzeitig stattfinden.

Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es über den Einfluss von Bewegung auf Konzentration und schulische Leistungen? 
Zunächst muss man die Konzentration von der schulischen Leistung unterscheiden, weil Letzteres von mehreren Faktoren abhängig ist, nicht nur von der Konzentrationsfähigkeit der Lernenden. Gesichert ist: Mittlere körperliche Aktivität fördert kurzfristig die Durchblutung, aktiviert Hirnregionen und erleichtert so die Konzentration. Auch exekutive Funktionen wie Inhibition,1 Arbeitsgedächtnis oder kognitive Flexibilität profitieren langfristig von motorischen Aktivitäten, was wiederum Lernprozesse unterstützt.
Die Datenlage zu direkten Leistungssteigerungen ist jedoch uneinheitlich. Es gibt positive Befunde, dass die Konzentration kurzfristig und die exekutiven Funktionen langfristig durch Bewegung verbessert werden können, doch sie lassen sich nicht pauschal auf alle Kinder und Schulstufen übertragen. Für Lehrpersonen ist es entscheidend, individuell darauf zu achten, was eine Klasse oder Lernende im jeweiligen Moment brauchen, um optimal von Bewegung zu profitieren.

Gibt es bestimmte Bewegungsformen, die sich besonders positiv auf die Konzentration auswirken?
Am besten belegt sind Ausdauerbewegungen bei mittlerer bis höherer Intensität. Sie regen die Blutzirkulation an und wirken nicht nur körperlich, sondern auch kognitiv aktivierend.
Zu komplexe oder koordinativ anspruchsvolle Bewegungen sowie extreme Belastungen können dagegen die Aufmerksamkeit vollständig absorbieren – bei einem 100-Meter-Sprint bleibt kaum Energie fürs Denken. Ein Patentrezept gibt es jedoch nicht. Entscheidend ist, dass die Bewegung zu den Voraussetzungen und Bedürfnissen der lernenden Person und zur Situation im Unterricht passt.

Was empfehlen Sie Lehrpersonen ganz konkret, um mehr Bewegung in den Alltag zu bringen?
Bewegung ist nicht allein Aufgabe einzelner Lehrpersonen, sondern Teil einer übergeordneten Schulkultur. Mit dem Projekt «Active School» zeigen wir, wie man ganzheitlich, auf allen Ebenen der Schule, Bewegungsangebote etabliert: im Unterricht mit Bewegungspausen und bewegtem Lernen, in Pausenbereichen, auf dem Schulweg oder auf dem Schulhausareal. Zentral ist, dass Schulleitungen und Lehrpersonen kollaborieren, um die Schule bewegungsfreundlich zu gestalten, und dass Schülerinnen und Schüler, Eltern sowie Gemeinden eingebunden werden. Ausserdem können Fachteams oder Arbeitsgruppen gemeinsam Ideen entwickeln und diese an andere Lehrpersonen weitergeben. Auf kantonaler Ebene wiederum können Good-Practice-Beispiele geteilt werden. Letztlich braucht es Ressourcen – Zeit, Räume, Materialien –, aber auch Mut zum Ausprobieren: Lehrpersonen sollen testen, was funktioniert, sich austauschen und dranbleiben. So wird Bewegung ein fester Bestandteil von Lernen, Gesundheit und Schulkultur.

1 Inhibition ist die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren und störende Reize auszublenden.

Andrea Nadenbousch (47)

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Bewegung und Sport im IPS der PHBern. Sie hat langjährige Erfahrung als Primar- und Sekundarschullehrerin und arbeitet im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit im Projekt «Active School» (Schulentwicklung im Kontext von bewegter Schule auf Sekundarstufe I) am Fachdidaktikzentrum Sport der PHBern.

Cathy Omoregie

Foto: Pia Neuenschwander

 

EDUCATION 3.25

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